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Bürgergeld soll Angst machen – das Zahlenspiel um die Totalsanktionierung

Ängstliche Frau vor Jobcenter

Die Ampelregierung scheint Zahlenspiele zu lieben. Schon mit dem Vorschlag, junge Bürgergeld Bedürftige aus der Zuständigkeit der Jobcenter zu nehmen, bewiesen die Verantwortlichen echte Taschenspielerqualitäten. Gleiches scheint bei der geplanten Einsparung durch 100-prozentige Leistungsminderungen der Fall zu sein. Denn 170 Millionen Euro, die man mehr in der Kasse haben möchte, stehen in keinem Verhältnis zur Zahl derer, die sich gegenüber Jobangeboten verweigern.

Regelsatz komplett streichen

Die „Rote Karte“ für Menschen, die auf Bürgergeld angewiesen sind, aber keine Arbeit aufnehmen: Das passt nicht wirklich zum Anspruch der SPD und hat in den Reihen der Fraktion auch bereits zu Spannungen geführt. Doch es scheint unumgänglich zu sein, 100-Prozent-Sanktionen aus dem Hut zu zaubern, um in der Wählergunst wieder Boden gut zu machen und auf der Welle von Union und AfD zu reiten. Mehr noch: So zieht man dann auch noch die Buhmänner der Nation heran, um die leeren Kassen zu füllen.

Im Entwurf des Zweiten Haushaltsfinanzierungsgesetzes 2024 (Stand 08.01.2024) heißt es – neben der Streichung des Bürgergeld Bonus in Höhe von 75 Euro – im Artikel 5 zu den Änderungen im SGB II:

Dem § 31a wird folgender Absatz 7 angefügt:
„(7) Abweichend von Absatz 4 Satz 1 entfällt der Leistungsanspruch in Höhe des Regelbedarfes, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte, deren Bürgergeld wegen einer Pflichtverletzung nach § 31 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2, Absatz 2 Nummer 3 oder Absatz 2 Nummer 4 innerhalb des letzten Jahres gemindert war, eine zumutbare Arbeit nicht aufnehmen. Die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme muss tatsächlich und unmittelbar bestehen und willentlich verweigert werden. Absatz 1 Satz 6, die Absätze 2 und 3 sowie § 31 Absatz 1 Satz 2 finden Anwendung.“

Quelle: Entwurf eines Zweiten Haushaltsfinanzierungsgesetzes 2024 – Drucksache 20/9999

BMAS redet um den heißen Brei

Doch wie genau das funktionieren soll, verrät das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) nicht. Die Fragen von Tilo Jung während der Bundespressekonferenz dazu, wie man auf 170 Millionen Euro kommt und wie viele Bürgergeld Bedürftige betroffen wären, wurden nur ausweichend beantwortet.

Nur kleiner Teil Totalverweigerer

Parissa Chagheri, stellvertretende Pressesprecherin beim BMAS, erklärte, dass die 170 Millionen Euro sich aufteilen auf 150 Millionen Euro aufseiten des Bundes und 20 Millionen Euro bei den Kommunen. Was die Zahl der sanktionierten Hartz IV Bedürftigen (heute Bürgergeld) betrifft, hatte sie nur Daten aus 2018 zur Hand. Seinerzeit waren drei Prozent aller arbeitslosen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten von Leistungskürzungen betroffen. Von diesen drei Prozent sei ein kleiner Teil Totalverweigerer. Exakte Zahlen konnte oder wollte die Ministeriumssprecherin nicht nennen.

Gar nicht erst bedürftig werden

Wie man 170 Millionen Euro einsparen möchte, ging aus den Antworten auch nicht hervor. Einerseits wohl dadurch, dass kein Regelbedarf mehr bezahlt wird. Andererseits aber auch dadurch, dass Betroffene durch eine drohende Totalsanktionierung eine Arbeit gar nicht erst ablehnen oder aufgeben – und viele somit auch nicht bedürftig werden. Tilo Jung sprach vom „Prinzip Hoffnung“, Parissa Chagheri von „Prognosen für die Zukunft“. Letztlich sind die 100-Prozent-Sanktionen nichts anderes als eine Angst auslösende Drohkulisse.

0,045 Prozent lehnen jede Arbeit ab

Denn schaut man sich aktuelle Zahlen an, ist man weit von 150.000 Bürgergeld-Empfängern entfernt, denen man für zwei Monate den Regelsatz streicht. Im September 2023 waren 1.688.844 arbeitslose erwerbsfähige Leistungsberechtigte im System. Davon waren 9.969 mit mindestens einer Kürzung belegt. Macht 0,6 Prozent. Bezogen auf alle Leistungsberechtigten (3.929.813) wurden im September 23.317 neue Leistungsminderungen festgestellt und gab es 21.216 Betroffene mit einer Kürzung, was 0,5 Prozent entspricht.

Luftnummer?

Von den 23.317 Sanktionen wiederum galten nur 1.746 (7,5 Prozent) sogenannten Totalverweigerern (Weigerung Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung oder eines geförderten Ausbildungsverhältnisses). Unter dem Strich heißt das: Es gibt knapp 0,045 Prozent Bürgergeld Bedürftige, denen eine Kürzung des Regelsatzes um 100 Prozent droht. Selbst wenn man den rund 1.750 Betroffenen jeden Monat den Regelsatz (in Regelbedarfsstufe 1) streicht, wären das „nur“ 11,823 Millionen Euro im Jahr (12 x 1.750 x 563 Euro) – und nicht 170 Millionen Euro. Einige Medien sprechen daher schon von einer „Luftnummer“.

Stimmenfang mit der Angst

Entweder haben sämtliche Taschenrechner im BMAS eine Fehlfunktion oder es geht schlichtweg darum, Angst vor dem Bürgergeld zu machen. So sehr, dass jeder Job angenommen wird und einer der wenigen Lichtblicke des Bürgergelds, der Verzicht auf den Vermittlungsvorrang, überhaupt keine Bedeutung mehr hat. Angst machen, um Stimmen zu fangen – das ist traurig.

Bild: SvetaZi + 1take1shot/ shutterstock