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Sozialbetrug als Straftatbestand – Bürgergeld als Türöffner für mehr Kontrolle?

Polizist überwacht verdeckt und hört Telefon ab

Sozialmissbrauch soll zur Straftat werden – Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) lässt ihren Ankündigungen aus dem Sommer Taten folgen und und greift damit auch eine Forderung ihres Koalitionspartners (CDU) auf. Bei einer von ihr einberufenen Fachkonferenz zur EU-Zuwanderung am 27. Oktober in Duisburg bekräftigte sie ihre Pläne im Gespräch mit Vertretern von Kommunen – insbesondere der betroffenen Ruhrgebietsstädte – und der Jobcenter: Der bandenmäßige Missbrauch soll als eigener Straftatbestand im Strafgesetzbuch verankert werden, und parallel sollen Polizei, Ordnungsämter und Jobcenter Daten künftig schneller teilen.

Während die Ministerin klarstellt, dass es um kriminelle Strukturen gehe – nicht um pauschale Verdächtungen gegen Bürgergeld-Empfänger – regt sich an dem Vorhaben massive Kritik. Die offizielle Datenlage scheint den Schritt kaum zu rechtfertigen, und Experten fürchten, der neue Paragraf diene vor allem als juristischer Türöffner für erweiterte Überwachungsbefugnisse.

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Trojanisches Pferd: Mehr Überwachung statt mehr Verurteilungen?

Die zentrale Frage lautet: Braucht es wirklich einen neuen Straftatbestand? Schon heute lassen sich Erschleichungen über Betrug (§ 263 StGB) verfolgen. Ein „eigenes Delikt“ wirkt daher auf den ersten Blick symbolisch, doch die wahre Stoßrichtung dürfte eine andere sein.

Kritiker sehen in dem Plan einen juristischen Hebel, um die rechtsstaatlichen Hürden bei den Ermittlungen zu senken. Die offizielle Statistik (siehe unten) zeigt, dass Verfahren oft nicht an fehlenden Gesetzen scheitern, sondern an zwei Punkten:

  1. Geringfügigkeit (§ 153 StPO): Viele Fälle werden wegen Geringfügigkeit eingestellt. Ein neuer Straftatbestand mit einer hohen Mindeststrafe (z.B. sechs Monate) würde diese Taten politisch aus der Geringfügigkeit herausheben. Ein Staatsanwalt könnte die Akte dann nicht mehr so leicht schließen.
  2. Beweisnot (§ 170 Abs. 2 StPO): Viele Verfahren scheitern mangels Tatverdacht. Um bandenmäßige Absprachen zu beweisen, bräuchte die Polizei schärfere Werkzeuge, etwa eine Telefonüberwachung (§ 100a StPO). Diese ist bei normalem Sozialbetrug verboten.

Hier liegt der Kern: Ein neuer, „schwerer“ Paragraf würde als juristischer Türöffner dienen. Er könnte als Straftat von erheblicher Bedeutung eingestuft werden und so den Ermittlern den Zugriff auf Überwachungsmethoden erlauben, die für diesen Lebensbereich bisher tabu sind. Das würde die Eingriffsrechte spürbar erweitern.

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Datenaustausch und ein neuer Paragraf: Das sind die Pläne

Im Zentrum des Pakets stehen zwei Bausteine: ein eigener Straftatbestand und eine formale Rechtsgrundlage für einen schnellen, zweckgebundenen Datenaustausch. Geplant sind klarere Meldewege, technische Schnittstellen und Abfragen, wenn Hinweise auf organisierte Strukturen vorliegen.

Der Hintergrund ist die EU-Freizügigkeit: Zuwanderer aus EU-Ländern haben bei reiner Arbeitsuche zunächst keinen Anspruch auf Bürgergeld. Nehmen sie jedoch eine Arbeit auf – und sei es nur ein Minijob – erhalten sie den Status eines „Arbeitnehmers“ und damit vollen Anspruch auf aufstockende Leistungen. Kriminelle Strukturen nutzen dies, indem sie Menschen mit „Scheinjobs“ ausstatten, um so den vollen Bürgergeld-Anspruch freizuschalten.

Diskutiert wird auch, die Einbindung weiterer Stellen zu präzisieren – etwa Familienkassen oder Schulbehörden, wenn Leistungen vom Schulbesuch abhängen. Das Ministerium setzt auf Tempo. Länder und Kommunen sollen IT-Standards liefern, die Justiz Ermittlungsprioritäten setzen.

Die Datenfalle

Warum die Zahlen den Eingriff nicht stützen

Die Politik spricht von „Netzwerken“ und „Banden“ und meint damit oft organisierte Strukturen im Kontext der Zuwanderung aus EU-Ländern wie Bulgarien und Rumänien.

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Die offizielle Zahlenbasis fällt jedoch schmal aus. Gemeldet werden Fälle „bandenmäßigen Leistungsmissbrauchs“, die vor allem die Muster der Scheinjobs und Scheinmietverhältnisse adressieren. Erfasst werden nur die gemeinsamen Einrichtungen (gE), also nur ein Teil der Jobcenter. Von über fünf Millionen Bürgergeld-Empfängern betrifft die Statistik einen niedrigen dreistelligen Bereich organisierter Verfahren im Jahr. Das ist ein Problem – aber kein Massenphänomen.

Fallzahlen: Bandenmäßiger Leistungsmissbrauch (2023-2025)
Jahr Erfasste Verfahren „bandenmäßig“ Davon Strafanzeigen
2023 229 52
2024 421 209
2025 (bis Mai) 195 96

Quelle: Regierungsantwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen (Drucksache 21/966 vom 22.07.2025)

Die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit, auf die sich die Regierungsantwort bezieht, zeigen, wie die Fälle auf zwei Ebenen gefiltert werden:

Was die Jobcenter selbst aussortieren Im Jahr 2024 schlossen die Jobcenter 421 Ermittlungsverfahren wegen „bandenmäßigen Missbrauchs“ ab. Davon übergaben sie aber nur 209 Fälle – also nicht einmal die Hälfte – als Strafanzeige an die Staatsanwaltschaft. Die restlichen 212 Fälle wurden von den Jobcentern selbst anders bewertet: Sie wurden zum Beispiel an den Zoll abgegeben (72 Fälle), als „kein Straftatverdacht“ (74 Fälle) eingestellt oder als bloße Ordnungswidrigkeit (z.B. mit einem Bußgeld) geahndet.

Was die Justiz aus den Anzeigen macht Noch deutlicher wird es, wenn man die Rückmeldungen der Staatsanwaltschaften betrachtet (Tabelle D der Drucksache). Obwohl die Jobcenter im Jahr 2024 209 Strafanzeigen stellten, erhielten sie (laut dieser Statistik) nur 36 Rückmeldungen von der Justiz über den Ausgang dieser Verfahren.

Die Datenlage ist also extrem dünn. Doch selbst diese 36 Fälle sind aufschlussreich: Von diesen 36 zurückgemeldeten Verfahren wurden 30 wieder eingestellt – etwa weil der Tatverdacht nicht ausreichte oder es sich nur um eine Geringfügigkeit handelte. Nur 3 Fälle endeten mit einer Geldstrafe (einer echten strafrechtlichen Verurteilung), nicht zu verwechseln mit einem Bußgeld (einer Ordnungswidrigkeit).

Genau diese Einstellungsgründe (Beweisnot und Geringfügigkeit) sind es, die der neue Straftatbestand nun offenbar durch die Hintertür adressieren soll.

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Breiter Widerstand: Verbände warnen vor Generalverdacht

Kritik entzündet sich an zwei Punkten. Erstens am Mehr an Strafrecht: Fachleute halten zusätzliche Paragrafen ohne Ausstattung für wenig wirksam. Nötig seien Schwerpunktstaatsanwaltschaften, Ermittler, Sprachmittler, forensische IT – nicht Symbolgesetzgebung.

Zweitens am Datentausch-Turbo: Ein Offener Brief von über 40 Organisationen, der der Ministerin zum Treffen in Duisburg überreicht wurde, warnt vor einer „Diskursverschiebung“. Die Pläne würden zu einer Stigmatisierung von EU-Bürgern, insbesondere aus Rumänien und Bulgarien, führen.

Auch andere zivilgesellschaftliche Bündnisse kritisieren die Debatte als populistisch. Sie schüre einen Generalverdacht, koste Vertrauen und treffe am Ende die Falschen, während die „kriminellen Profiteure“ (z.B. Vermieter von Schrottimmobilien) ungeschoren blieben. Wie Netzpolitik.org berichtet, warnen Kritiker vor einem „function creep“ – der schleichenden Zweckausweitung vom Betrugsverdacht zur Dauerprüfung.

Wenn Lehrer zur Kontrolleuren werden

Besonders sensibel ist die Idee, Schulbehörden zur verlässlichen Meldung heranzuziehen, wenn Zahlungen an den Schulbesuch geknüpft sind. Pädagogische Verantwortung (basierend auf Vertrauen) und Sozialleistungsverwaltung (basierend auf Kontrolle) verfolgen unterschiedliche Ziele. Kommen automatische Meldungen, droht ein Klima der Kontrolle statt der Hilfe.

Gleiches gilt für Datenwege von Polizei und Ordnungsämtern in Richtung Jobcenter. Ohne enge Zweckbindung, kurze Speicherfristen und belastbare Protokollierung kippt die Vernetzung in Überwachung. Nötig sind klare Stoppschilder: Kein automatischer Leistungsstopp allein wegen eines Daten-Treffers. Im Vordergrund steht die Überprüfung, erst dann eine Entscheidung.

Bürgergeld-Empfänger als Kollateralschaden

Warum die Pläne vor allem Unschuldige treffen

Die Pläne zielen auf organisierte Täter. In der Praxis trifft schärferes Recht aber zuerst die, die am schwächsten sind. Mehr Abgleiche führen zu mehr Rückfragen – und zu mehr Druck, wenn Unterlagen fehlen oder Arbeitgeber zu spät melden.

Schon heute setzen Jobcenter Leistungen aus, wenn unklare Sachlagen bestehen. Kommen neue Datenquellen hinzu, steigen die Risiken für Verzögerungen. Wer korrekt handelt, soll nichts zu befürchten haben.

Entscheidend ist, ob der Rechtsstaat Verfahrensgarantien wie das rechtliche Gehör (Vorab-Anhörung) ernst nimmt, Fehler schnell korrigiert und effektiven Rechtsschutz (z.B. Eilklagen) ermöglicht. Sonst geraten Familien in Schleifen, die Betrüger kalt lassen, aber viele Unbeteiligte treffen.

Datenschutz als Bremse?

Warum Kontrolle klare Regeln braucht

Datenschutz blockiert nicht Aufklärung, sondern schützt Unschuldige vor blinden Treffern. Deshalb braucht der Datentausch eine klare Rechtsgrundlage und strenge Leitplanken: Anlassbezug jeder Abfrage, dokumentierter Zweck, Datenminimierung, kurze Löschfristen und eine verpflichtende Datenschutz-Folgenabschätzung.

Nötig sind zudem eine unabhängige Aufsicht und regelmäßige Transparenzberichte über Treffer- und Fehlerquoten. Ohne diese Sicherungen frisst sich das Misstrauen in die Grundsicherung.

Warum ein neues Gesetz das Kernproblem nicht löst

Schärferes Strafrecht führt nicht automatisch zum Erfolg. Ein eigener Straftatbestand kann Ermittlungen bündeln, wenn Bandenmodelle vorliegen. Garantiert beschleunigt er Verfahren aber nicht. Neue Paragrafen schaffen in erster Linie Auslegungsfragen und Mehrarbeit.

Was Verfahren wirklich schneller macht, sind Ressourcen. Kritisch wäre, wenn das neue Delikt später in Kataloge für Überwachungsmaßnahmen rutscht. Damit wüchsen die Eingriffsrechte erheblich. Für schwerwiegende Eingriffe, wie eine Wohnungsdurchsuchung oder das Abhören von Telefonen, muss zwingend eine richterliche Anordnung angefordert werden. Genauso wichtig ist eine klare Trennlinie, damit das Gesetz nicht alltägliche Fehler genauso hart trifft wie echte organisierte Kriminalität.

Mehr Kontrolle braucht eng abgesteckte Grenzen

Worauf es jetzt ankommt

Wenn der Bund mehr Datenabgleiche und Vernetzung will, muss das Gesetz die Balance wahren. Es braucht klare Schwellen für den Datentausch, ein Verbot automatisierter Leistungsstopps und die nötigen Ressourcen für Ermittler. Nur dann trifft das Paket die Profiteure krimineller Geschäftsmodelle – und nicht die überwiegende Mehrheit ehrlicher Bürgergeld-Empfänger.

Es liegt nun an der Bundesregierung unter Kanzler Friedrich Merz (CDU), bei der Ausarbeitung des Gesetzes durch eine strikte Limitierung dieser Maßnahmen sicherzustellen, dass Effizienz nicht das Vertrauen in den Rechtsstaat untergräbt.