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Rente mit 70 rückt näher – Streit nur noch um das Wann

Bundeswirtschaftsministerin Ketherina Reiche (CDU) erläutert ihr Rentenvorhaben mit 70

Die politische Debatte hat ihren letzten Tabubruch erlebt. Seit Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) in einem FAZ-Interview am 26. Juli erklärte, die Deutschen könnten nicht länger ein Drittel ihres Lebens in Rente verbringen, sondern müssten „mehr und länger arbeiten“, spricht Berlin nicht mehr darüber, ob die Regelaltersgrenze erneut ansteigt, sondern nur noch wann das passieren soll.

Reiches Rechenexempel

Reiche stützt sich auf Berechnungen des Freiburger Rentenökonomen Bernd Raffelhüschen. In den 1960er-Jahren finanzierten 4,5 Arbeitsjahre ein Rentenjahr, weil Ruheständler nach durchschnittlich 45 Versicherungsjahren noch zehn bis elf Jahre Rente bezogen. Heute decken bereits zwei Arbeitsjahre ein Bezugsjahr, weil das durchschnittliche Rentenleben auf über 20 Jahre gewachsen ist – eine „stille Rentenerhöhung“, wie Raffelhüschen es nennt.

Der demografische Druck untermauert den Vorstoß. Auf 100 Personen zwischen 20 und 64 Jahren kamen 2022 bereits 37 Menschen ab 65 Jahren; zur Mitte der 2030er-Jahre wird dieser Altenquotient laut Statistischem Bundesamt auf über 40 steigen.

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Die offene Flanke der SPD

Nur zwei Wochen vor Reiches Interview hatte Bundesarbeits- und Sozialministerin Bärbel Bas (SPD) im ZDF-Morgenmagazin gesagt, sie sei „für alles offen“, wenn gleichzeitig Beamte, Abgeordnete und Selbstständige in die gesetzliche Rentenversicherung einbezögen würden. Während Reiche notfalls sogar eine Anhebung bis 70 Jahre ins Spiel bringt, hält Bas die konkrete Zahl offen und verknüpft jede Stufe über 67 mit einer breiteren Beitragsbasis. Damit verlagert sich der Streit in der Regierung auf die Bedingungen, unter denen ein höheres Rentenalter akzeptabel sein könnte.

Zustimmung aus der Wirtschaft – scharfer Widerstand von Gewerkschaften

Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sprach von „Klartext“, der die Realität der Sozialversicherungen anerkenne, und warnt vor einem Kollaps des Systems ohne längere Lebensarbeitszeit.

Ganz anders der Deutsche Gewerkschaftsbund: Vorstandsmitglied Anja Piel bezeichnet ein höheres Rentenalter als „Rentenkürzung durch die Hintertür“ und verweist darauf, dass viele Beschäftigte schon heute kaum gesund bis 65 durchhalten.

Auch innerhalb der SPD hagelt es Kritik. Generalsekretär Tim Klüssendorf sprach im ntv Frühstart von einer „Rentenkürzung, die mit uns nicht zu machen ist“, und Finanzminister Lars Klingbeil nannte Reiches Plan einen „Schlag ins Gesicht“ für körperlich belastete Berufsgruppen.

Ein Loch in der Rentenkasse

Die nüchternen Zahlen erhöhen den Handlungsdruck. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) droht der Rentenversicherung im Jahr 2035 eine Finanzierungslücke von 34 Mrd. €, was einen Beitragssatz von mehr als 22 % erfordern würde, sollte nichts geschehen. Das IW hat übrigens auch kürzlich errechnet, dass sich 2 Mrd. Euro bei der Arbeitslosenversicherung einsparen lassen, wenn man Arbeitslosen ab 50 Jahren das Arbeitslosengeld auf zwölf Monate kürzt.

Ohne zusätzliche Beitragszahler oder ein höheres Rentenalter müsste der Bund die Lücke mit Steuermitteln schließen, was bereits heute fast ein Fünftel des Bundeshaushalts ausmacht.

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Rechtlicher Rahmen und politischer Fahrplan

Formal genügt eine Änderung von § 235 SGB VI, dessen aktueller Stufenplan die 67 bis 2031 festschreibt. Das Bundessozialgericht hat schon 2019 bestätigt, dass der Gesetzgeber bei angemessenen Übergangsfristen einen weiten Gestaltungsspielraum besitzt.

Union und SPD wollen 2026 eine neue Rentenkommission einsetzen, deren Bericht Ende 2027 festlegen soll, ob Reiches feste 70 oder Bas’ konditioniertes Modell den Gesetzesweg nimmt.

Blick ins Ausland

Deutschland wäre kein Sonderfall. Dänemark, Italien, die Niederlande und Island haben bereits beschlossen, ihre Altersgrenzen bis spätestens 2040 auf 70 Jahre anzuheben – Dänemark koppelt den Termin sogar automaisch an die steigende Lebenserwartung. Das schwächt das Argument, eine 70-Regel sei international ein Alleingang.

Düsterer Ausblick für Beschäftigte

Die Fronten sind klar: Wirtschaft und Teile der CDU drängen auf rasche Gesetzgebung, Gewerkschaften und der linke SPD-Flügel warnen vor sozialer Sprengkraft, Bas bietet Gesprächsbereitschaft – allerdings nur gegen eine Erwerbstätigenversicherung für alle. Dass die Regelaltersgrenze erneut steigen wird, scheint nach diesem Sommer politisch gesetzt. Die entscheidende Frage lautet nur noch, ob die 70 in einem Zug kommt oder stufenweise, und welche Ausgleichs­mechanismen eine Mehrheit im Bundestag überzeugen können.