Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat eine wichtige Entscheidung zur Anrechnung von Einkommen bei Bürgergeld-Beziehern getroffen, die eine Privatinsolvenz durchlaufen. Das Gericht stellte fest: Pfändbare Beträge, die direkt an den Insolvenzverwalter abgeführt werden, zählen nicht als anrechenbares Einkommen.
Sachlage: Streit um die Einkommensberechnung
Der konkrete Fall, der zur Klärung führte, betraf eine Bedarfsgemeinschaft, bestehend aus einer Mutter, ihren drei minderjährigen Kindern und ihrem Partner – der nicht Vater der Kinder ist. Der Partner, dessen Einkommen Streitgegenstand war, war erwerbstätig, befand sich jedoch im fortgeschrittenen Stadium seiner Privatinsolvenz, der sogenannten Wohlverhaltensphase.
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Dieser Status hatte zur Folge, dass der nach der Zivilprozessordnung (ZPO) pfändbare Anteil seines Arbeitseinkommens gemäß § 287 Abs. 2 der Insolvenzordnung (InsO) abgetreten wurde. Konkret wurde der über den Pfändungsfreigrenzen liegende Lohnanteil des Mannes vom Arbeitgeber vor der Auszahlung direkt an den bestellten Treuhänder überwiesen.
Das zuständige Jobcenter legte bei der Berechnung des Anspruchs auf Leistungen nach SGB II das volle Nettoeinkommen des Partners zugrunde. Die Behörde berücksichtigte den gepfändeten Betrag, der dem Haushalt faktisch nicht zur Verfügung stand, als verfügbares Einkommen an, ohne ihn als notwendigen Abzugsposten zu behandeln.
Die Konsequenz dieser fehlerhaften Berechnung war die Ablehnung des Antrags auf Bürgergeld, da das fiktiv angerechnete Einkommen den gesamten Bedarf der Bedarfsgemeinschaft nach Ansicht des Jobcenters überschritt und die Familie somit als nicht hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung eingestuft wurde.
Entscheidung des Gerichts: Der Grundsatz der „bereiten Mittel“
Das Landessozialgericht bestätigte im Wesentlichen die Rechtsauffassung der Kläger und des erstinstanzlichen Sozialgerichts Bayreuth. Die Richter stützten ihre Entscheidung auf den Grundsatz der „bereiten Mittel“, der sich u. a. aus § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II und der Rechtsprechung des BSG ergibt.
Als Einkommen können nur Einnahmen berücksichtigt werden, die als sogenannte „bereite Mittel“ der Bedarfsgemeinschaft zur Bestreitung des Lebensunterhalts tatsächlich zur Verfügung stehen.
Das Gericht stellte klar, dass der direkt vom Arbeitgeber an den Treuhänder abgetretene Lohnanteil diesem Grundsatz nicht genügt.
- Fehlende tatsächliche Verfügungsgewalt: Der pfändbare Betrag wurde aufgrund der zwingenden Abtretungserklärung im Rahmen des Insolvenzverfahrens (§287 Abs. 2 InsO) zu keinem Zeitpunkt auf dem Konto des Leistungsberechtigten gutgeschrieben.
- Keine Freie Verwendbarkeit: Da die Lohnteile zweckgebunden und zwingend zur Schuldentilgung verwendet werden mussten, konnten sie nicht für den existenzsichernden Bedarf der Familie eingesetzt werden.
- Abgrenzung zur Fiktion: Das Gericht verwarf damit die juristische Fiktion des Jobcenters, der gepfändete Betrag sei dem Grunde nach „Einkommen“ des Schuldners und müsse daher vollständig angerechnet werden, auch wenn er rechtlich gebunden ist. Entscheidend ist allein der tatsächliche Zufluss und die freie Verwendbarkeit.
Da der angeblich angerechnete Betrag faktisch nie zur Verfügung stand, konnte er die Hilfebedürftigkeit der Bedarfsgemeinschaft nicht mindern.
Bürgergeld Anrechnung: Kredit ist kein Einkommen
Juristische Begründung zur Mitwirkungspflicht
Das Gericht setzte sich eingehend mit der Argumentation des Jobcenters auseinander, wonach der Kläger im Rahmen seiner Selbsthilfeverpflichtung aktiv gegen die Abführung seines Lohnanteils durch den Arbeitgeber hätte vorgehen müssen. Das LSG wies diese Ansicht mit doppelter Begründung zurück:
- Unwiderruflichkeit der Abtretung in der Insolvenz: Eine Rückgängigmachung der einmal im Rahmen des Insolvenzantrags erklärten Abtretung der pfändbaren Forderungen gemäß §287 Abs. 2 InsO war dem Kläger nicht möglich. Die Abtretung ist eine zwingende Obliegenheit des Schuldners in der Wohlverhaltensphase.
- Ausschluss der Pfändungserhöhung nach ZPO: Auch ein Antrag beim Insolvenzgericht auf Heraufsetzung des Pfändungsfreibetrags gemäß § 850f Abs. 1 Nr. 1 ZPO hätte im konkreten Fall keine Aussicht auf Erfolg gehabt.
- Diese Vorschrift erlaubt eine Anhebung der Pfändungsgrenze nur, wenn der notwendige Lebensunterhalt des Schuldners oder von Personen, denen er gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet ist, nicht gedeckt ist.
- Da der Kläger und seine Partnerin zum relevanten Zeitpunkt nicht verheiratet waren, bestand gegenüber ihr und ihren Kindern keine gesetzliche Unterhaltspflicht im Sinne des Zivilprozessrechts.
- Folglich konnten die Unterhaltsbedarfe der Bedarfsgemeinschaft bei der Berechnung des pfändungsfreien Betrages nicht berücksichtigt werden. Das LSG stellte klar, dass vertragliche oder faktische Unterhaltsleistungen innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft nach SGB II (§7 Abs. 3 SGB II) hierbei unbeachtlich sind.
Da dem Kläger rechtlich keine erfolgversprechenden Mittel zur Verfügung standen, um den abgetretenen Lohnanteil für die Bedarfsdeckung freizubekommen, konnte das Jobcenter ihm kein Versäumnis bei der Mitwirkung vorwerfen.
Bedeutung des Urteils
Die Entscheidung des Bayerischen Landessozialgerichts (Az. L 11 AS 326/22 vom 27.11.2024) stellt eine wichtige Klarstellung für die behördliche Praxis dar. Sie verdeutlicht, dass die rechtliche Verpflichtung zur Abtretung von Lohnteilen im Insolvenzverfahren die Anrechnung dieser Beträge als verfügbares Einkommen im Sozialrecht verhindert. Für Bürgergeld-Empfänger, die von Lohnpfändungen oder Privatinsolvenzen betroffen sind, hat dies direkte Auswirkungen auf die Berechnung ihrer Hilfebedürftigkeit.