Ein Wohnkomplex in Göttingen wird zum Symbol für Missbrauch: Im Fokus steht der große Wohnblock in der Groner Landstraße 9. Zahlreiche Bürgergeld-Empfänger stehen dort im Verdacht, die vom Jobcenter überwiesenen Mieten (Kosten der Unterkunft, KdU) nicht an den Vermieter weitergeleitet, sondern einbehalten zu haben. Die Hausverwaltung spricht von massiven Mietrückständen von über 850.000 € innerhalb von nur zwei Jahren. Der Fall befeuert die Forderung nach einer Reform der Direktzahlung und zeigt die Schwachstellen im Sozialsystem auf.
Inhaltsverzeichnis
Der Göttinger Fall: Die Dimension des Missbrauchs
Die Hausverwaltung Coeles Group lieferte detaillierte Zahlen, die die Brisanz des Einzelfalls belegen:
- Der Wohnkomplex umfasst 316 Wohnungen, wobei etwa die Hälfte leer steht.
- 145 von 161 aktiven Mietern sollen Mietrückstände aufweisen.
- Die Hausverwaltung schätzt, dass in rund 40 Fällen KdU kassiert, aber nicht an den Vermieter weitergeleitet wurden.
- Allein die unbezahlten Mieten in zwei Jahren belaufen sich auf die genannte Summe von 854.551,53 €.
Der Vermieter Sebastian Fesser schilderte in Medienberichten zudem die desolaten Zustände im Haus (Müll, Ratten, defekte Wohnungen), was das prekäre Umfeld für diese Betrugsmasche beschreibt.
Bürgergeld: Wie sich das Jobcenter ausnehmen lässt
Der Mechanismus: Das „Schlupfloch Abtretung“
Das deutsche Sozialrecht (§22 SGB II) sieht vor, dass das Jobcenter die KdU primär an den Leistungsberechtigten (den Mieter) auszahlt. Um die korrekte Verwendung der Gelder sicherzustellen, kann der Mieter eine Abtretungserklärung unterzeichnen (§22 Abs. 7 SGB II). Dies erlaubt dem Jobcenter, die Miete direkt an den Vermieter zu überweisen.
Das Missbrauchsrisiko:
- Widerruf: Der Mieter kann die Abtretung einseitig widerrufen. Das Jobcenter ist danach verpflichtet, die Zahlungen wieder an den Mieter vorzunehmen.
- Veruntreuung: Leitet der Mieter das Geld nun nicht weiter, entstehen Mietschulden, ohne dass das Jobcenter dies sofort bemerkt.
- Fehlender Anspruch: Da der Vermieter keinen eigenen Rechtsanspruch auf die Zahlung des Jobcenters hat, steht er den Zahlungsrückständen machtlos gegenüber, sobald der Widerruf greift.
Wie der Vermieter Sebastian Fesser und die Hausverwaltung Coeles Group berichten, wurde dieses „Schlupfloch“ im Göttinger Komplex systematisch genutzt.
Die juristische Falle: Wie der Staat „doppelt zahlt“
Der Eindruck, die öffentliche Hand zahle „doppelt“, entsteht durch die gesetzlich verankerte Mietschuldenübernahme – ein wichtiges Schutzinstrument:
- Erste Zahlung: Die regulären KdU fließen an den Mieter (und werden einbehalten).
- Zweite Zahlung: Droht dem Mieter die Räumung wegen der aufgelaufenen Mietrückstände, ist das Jobcenter zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit berechtigt (und teils verpflichtet), die Mietschulden als Darlehen zu übernehmen (§ 22 Abs. 8 SGB II).
Obwohl die zweite Zahlung juristisch ein rückzahlungspflichtiges Darlehen ist, läuft es in der Praxis darauf hinaus, dass Steuergelder erneut eingesetzt werden, um die Wohnung zu sichern, deren Miete zuvor schon einmal vom Amt bereitgestellt, aber nicht weitergeleitet wurde.
Der Fachanwalt für Strafrecht, Dr. Sascha Böttner, kritisiert in diesem Zusammenhang die erheblichen Beweisschwierigkeiten für die Behörden und fordert gesetzliche Klarstellungen zur Direktzahlungspflicht, um diese „Anfälligkeit“ des Systems zu beseitigen.
Der Blick über Göttingen hinaus: Bundesweite Relevanz
Der Fall Göttingen steht beispielhaft für ein größeres, bundesweites Problem im Kontext von Problemimmobilien und dem Bürgergeld.
- Sozialbetrug mit „Schrottimmobilien“: Ähnliche Mechanismen werden oft in Verbindung mit sogenannten „Schrottimmobilien“ in Großstädten gesehen, bei denen skrupellose Vermieter EU-Bürger in überteuerte, desolate Unterkünfte locken.
- Politische Debatte: Die Bundespolitik diskutiert angesichts solcher Vorfälle Maßnahmen wie die Einführung eines „kommunalen Quadratmeterdeckels“ für KdU, um Wuchermieten zu verhindern und Missbrauch einzudämmen.
- Update zur Immobilie: Die angespannte Lage in der Groner Landstraße 9 wurde bereits im September 2025 sichtbar, als die Stadt Göttingen kurzfristig einschreiten musste, um die Abstellung von Warmwasser und Heizung wegen hoher Außenstände des Vermieters zu verhindern. Der Betrugsverdacht entfaltet sich also in einem seit Jahren prekären Umfeld.
Jobcenter muss Mietschulden ohne Antrag übernehmen
Ausblick: Die Konsequenzen des Missbrauchs
Der Göttinger Fall zeigt die Schwachstellen der Gesetzgebung auf. Die aktuelle Rechtslage ist anfällig für Missbrauch, solange Vermieter keinen direkten Rechtsanspruch gegen das Jobcenter haben.
- Jobcenter und Sozialämter stehen in der Pflicht, das zweckwidrige Verhalten von Mietern konsequenter und schneller zu überprüfen, um Direktzahlungen an Vermieter (ohne Zustimmung des Mieters) früher anzuordnen (§22 Abs. 7 Satz 3 SGB II).
- Vermieter sind faktisch gezwungen, sofort bei Mietrückständen das Jobcenter zu informieren, um die Einleitung einer Direktzahlung zu erzwingen und höhere Verluste zu vermeiden.
- Die Politik wird durch solche Fälle weiter unter Druck gesetzt, die KdU-Regelungen im SGB II dringend zu reformieren, um die Sozialkassen vor Missbrauch zu schützen.
Gesellschaftliche Folge: Generalverdacht und Vertrauensverlust
Solche spektakulären Einzelfälle des Missbrauchs – selbst wenn sie eine Minderheit betreffen – haben eine weitreichende negative Wirkung auf die öffentliche Wahrnehmung. Sie schüren den Generalverdacht des Sozialbetrugs gegenüber der großen Mehrheit der Bürgergeld-Empfänger, die ihre Leistungen korrekt und ordnungsgemäß verwenden. Die tatsächlichen Bedürftigen stehen dadurch zusätzlich unter einem negativen Legitimationsdruck, was die politische Debatte über das Sozialsystem weiter verhärtet und das Vertrauen in die Solidargemeinschaft untergräbt.

