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Nahtlosigkeit beim Bürgergeld: Jobcenter muss auch bei Zweifeln einspringen

Richter zeigt entschlossen auf den Betrachter und hält Urteil – Symbolfoto Bürgergeld-Gerichtsentscheid

Das Problem des Hin- und Herschiebens zwischen Jobcenter und Sozialamt bei ungeklärter Erwerbsfähigkeit ist für Bürgergeld-Empfänger oft existenzbedrohend. Ein richtungsweisender Beschluss des LSG Nordrhein-Westfalen (L 9 SO 427/15 B ER) stellt ein Prinzip klar, das durch das Bundessozialgericht mehrfach bekräftigt wurde: Das Jobcenter darf Leistungen nicht verweigern, nur weil es die Erwerbsfähigkeit eines Antragstellers anzweifelt. Um eine Leistungslücke zu vermeiden – das Prinzip der sogenannten „Nahtlosigkeit“ – muss das Amt das Bürgergeld zumindest vorläufig zahlen, bis die Zuständigkeit endgültig geklärt ist.

Wichtig zu wissen: Warum die Erwerbsfähigkeit die Zuständigkeit entscheidet

Für das Verständnis des Konflikts ist eine grundlegende Unterscheidung wichtig: Das Bürgergeld (Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II) steht nur Personen zu, die als erwerbsfähig gelten. Erwerbsfähig ist, wer theoretisch mindestens 3 Stunden täglich arbeiten könnte. Ist diese Erwerbsfähigkeit nicht gegeben (z. B. wegen Krankheit oder Behinderung), entfällt die Zuständigkeit des Jobcenters. Die Betroffenen müssten dann Sozialhilfe (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung oder Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB XII) beim Sozialamt beantragen. Die Höhe der Leistung ist ähnlich, aber die Träger sind unterschiedlich. Genau diese Abgrenzung ist oft strittig und führt zu der gefürchteten Leistungslücke, die das Gericht hier verhindern will.

Wer bekommt Bürgergeld? Voraussetzungen im Überblick

Der Antrag: Wenn das Jobcenter die Erwerbsfähigkeit anzweifelt

Zum Fall: Der seit vielen Jahren in Deutschland lebende Antragsteller stammt ursprünglich aus Italien, besitzt jedoch ein Daueraufenthaltsrecht, wodurch er grundsätzlich einen Anspruch auf Bürgergeld Leistungen hat. Da ihm zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes derzeit keinerlei Mittel zur Verfügung stehen, hat er beim Jobcenter einen Antrag auf Grundsicherung gestellt. Die Frage seiner Erwerbsfähigkeit stand dabei von Anfang an im Raum.

Die Blockade: Warum das Jobcenter den Antrag sofort ablehnt

Reaktion des Jobcenters: Um über den Bürgergeld Antrag zu entscheiden, zog das Jobcenter ein arbeitsmedizinisches Gutachten der Bundesagentur für Arbeit heran. Darin wurde beschrieben, dass der Antragsteller nicht erwerbsfähig sei. Das Jobcenter schickte den Mann weiter an den Sozialhilfeträger der Stadt Herne – dort liegt die Zuständigkeit für Personen, die nicht erwerbsfähig sind. Aber: Auch der Sozialhilfeträger verweigerte dem Mann die existenzsichernden Leistungen.

Machtwort des Gerichts: Die Nahtlosigkeit erzwingt die Bürgergeld-Zahlung

Das LSG Nordrhein-Westfalen befand im Eilverfahren, dass das Vorgehen des Jobcenters rechtswidrig war (L 9 SO 427/15 B ER). Die Begründung: Das Gericht gab dem Jobcenter zwar grundsätzlich Recht, dass Bürgergeld Leistungen die Erwerbsfähigkeit voraussetzen würden, doch habe das Jobcenter bis zur Feststellung einer Erwerbsunfähigkeit die Leistungen erst einmal zu zahlen. Das zentrale Stichwort hier ist die Nahtlosigkeits-Logik.

Anhand dieser gesetzlichen Verpflichtung werde vermieden, dass Antragsteller, bei denen die Erwerbsfähigkeit noch nicht abschließend geklärt ist, zwischen die verschiedenen Antragsstellen geraten und letztlich von beiden Seiten – sowohl Jobcenter als auch Sozialamt – keine Leistungen erhalten. Ohne den Sozialhilfeträger hinzugezogen zu haben, dürfe das Jobcenter eine fehlende Erwerbsfähigkeit nicht annehmen. Eine Leistungslücke muss in jedem Fall verhindert werden.

So läuft es richtig: Die Pflicht zur Zusammenarbeit von Jobcenter und Sozialamt

Das Gericht ermahnte das Jobcenter, mit dem Sozialamt zusammenzuarbeiten. Das Jobcenter sei sogar verpflichtet, dem Sozialamt das arbeitsmedizinische Gutachten zu übersenden und in Erfahrung zu bringen, wie das Sozialamt die Erwerbstätigkeit der betreffenden Person einstuft. Es könne dem Sozialamt eine angebrachte Frist zur abschließenden Bewertung nennen. Sollte diese ohne eine Äußerung des Sozialamtes verstreichen, dürfe das Jobcenter Betroffenen die Bürgergeld Leistungen verweigern und sie an den Sozialhilfeträger weiterschicken. Den gesetzlichen Vorgaben folgend sei das Jobcenter im Zweifelsfall verpflichtet, ein über die Erwerbsfähigkeit bindendes Gutachten des Rentenversicherungsträgers anzufordern, so das LSG Nordrhein-Westfalen weiter.

Jobcenter muss Bürgergeld bei vorrangigen Leistungen vorstrecken

Das müssen Jobcenter bei Zweifeln an der Erwerbsfähigkeit beachten:

Um die gesetzlich geforderte Nahtlosigkeit und die vorläufige Zahlung des Bürgergelds zu sichern, muss das Jobcenter:

  • Leistungslücke verhindern: Das Bürgergeld vorläufig zahlen, solange die Erwerbsfähigkeit nicht abschließend geklärt ist.
  • Anderen Träger hinzuziehen: Den zuständigen Sozialhilfeträger (Sozialamt) umgehend in die Klärung einbeziehen.
  • Gutachten teilen: Das eigene arbeitsmedizinische Gutachten dem Sozialamt zur Bewertung übersenden.
  • Frist setzen: Dem Sozialamt eine angemessene Frist zur abschließenden Bewertung nennen.
  • Rentenversicherung einschalten: Im Zweifelsfall ein bindendes Gutachten der Rentenversicherung zur Erwerbsfähigkeit anfordern.

Auch wenn der Beschluss des LSG NRW schon einige Jahre auf dem Buckel hat, gilt sein Kern nach wie vor. Das Bundessozialgericht hat die Nahtlosigkeits-Logik inzwischen mehrfach bekräftigt – 2020 etwa mit dem Hinweis, dass Jobcenter sich nicht auf veraltete Gutachten stützen dürfen (B 14 AS 13/19 R) und 2024 mit der Klarstellung, dass auch nichterwerbsfähige Angehörige in einer Bedarfsgemeinschaft Anspruch auf Bürgergeld haben (B 7 AS 3/23 R). Solange die Erwerbsfähigkeit nicht endgültig feststeht, darf es also keine Leistungslücke geben – genau das zeigt der vorliegende Fall und bleibt heute uneingeschränkt gültig.