Bis zu 800.000 Menschen in Deutschland leben derzeit ohne aktiven Krankenversicherungsschutz – so schätzen Clearingstellen und Hilfsprojekte. Das steht im deutlichen Kontrast zu den letzten amtlichen Daten, die nur einen Bruchteil ausweisen. Für das Gesundheitssystem bedeutet das mehr unbezahlte Rechnungen, höhere Außenstände und medizinische Risiken, die oft erst im Notfall sichtbar werden.
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Offiziell viel weniger – warum die Statistik zu niedrig sein kann
Der Mikrozensus meldete zuletzt rund 61.000 nicht Krankenversicherte. Diese Erhebung erfasst vor allem Personen mit fester Adresse und regulärem Meldestatus. Gruppen ohne Meldeanschrift, ohne Papiere oder mit hochmobiler Lebenssituation fallen häufig durch das Raster. Beratungsstellen sprechen deshalb von einer deutlich höheren Dunkelziffer.
Wer ist besonders betroffen
Erfahrungen aus der Praxis nennen immer wieder ähnliche Konstellationen:
- Wohnungslose Menschen ohne feste Anschrift
- Zugezogene aus der EU ohne klare Zuordnung in GKV oder PKV
- Selbstständige mit Beitragslücken
- Auslandsrückkehrer, denen der direkte Anschluss an das System fehlt
- Personen mit hohen Beitragsschulden, die Leistungen faktisch nicht mehr in Anspruch nehmen
Clearingstellen und Projekte mit anonymen Behandlungsscheinen sind wichtige Anlaufstellen. Aus der Praxis kommen deutliche Hinweise auf steigenden Bedarf — die folgenden Stimmen ordnen das ein.
Steigender Zulauf zu Angeboten ohne Versicherung — Stimmen aus der Praxis
Trotz Versicherungspflicht verzeichnen Praxen, die Unversicherte behandeln, mehr Zulauf. Ob das an einer wachsenden Zahl Betroffener liegt oder daran, dass die Angebote bekannter werden, ist offen. „Ob das daran liegt, dass immer mehr Menschen in Deutschland keine Krankenversicherung haben oder ob das Angebot einfach immer bekannter wird, ist nicht ganz klar“, sagt Sophie Pauligk vom Bundesverband Anonymer Behandlungsschein und Clearingstellen. Entwicklungen wie ein angespannter Wohnungsmarkt und mehr Räumungsklagen sprechen für steigenden Bedarf. „Der allergrößte Teil der Menschen ist in existenzieller Not. Sie würden nicht kommen, wenn sie eine andere Möglichkeit sähen.“
Nach Angaben aus den Clearingstellen hat rund ein Drittel der Unversicherten keinen Migrationshintergrund. Häufig bestehen Schulden, psychische Belastungen oder es fehlt der Kontakt zu Behörden. Bei Unversicherten mit Migrationshintergrund sind die Ursachen vielfältig. Auffällig ist die hohe Zahl vietnamesischer Patientinnen und Patienten in Ostdeutschland und Berlin. „Dabei handelt es sich oft um Kinder und Enkelkinder von Vertragsarbeitern aus der DDR, die nach dem Mauerfall kein Asyl bekommen haben, aber in dritter Generation immer noch hier leben — unangemeldet.“
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Die Rechtslage – Pflicht ja, Lücken auch
Deutschland kennt eine allgemeine Versicherungspflicht in der Krankenversicherung. Sie wurde in zwei Schritten eingeführt:
- GKV-Auffangpflicht seit 1. April 2007 – § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V
- PKV-Pflicht seit 1. Januar 2009 – § 193 VVG
Wer zuletzt gesetzlich versichert war oder dem GKV-System zugeordnet wird, muss von einer Krankenkasse aufgenommen werden. Wer zuletzt privat versichert war, gehört in die PKV. Dort existiert bei Zahlungsrückstand ein Notlagentarif – reduzierter Leistungsumfang, aber Grundabsicherung in Akut- und Schmerzzuständen sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft.
Beitragsschulden – Entlastungen seit 2013
Mit dem sogenannten Beitragsschuldengesetz wurden die drastischen Säumniszuschläge in der GKV gesenkt. Ziel war ein realistischeres Inkasso und eine schnellere Rückkehr in regulären Schutz. In der PKV sollte der Notlagentarif verhindern, dass Menschen vollständig aus dem System fallen.
Rückwirkende Beitragspflicht führt zu Schulden
Durch die Versicherungspflicht entsteht die Mitgliedschaft in der GKV kraft Gesetzes, sobald die Voraussetzungen vorliegen. Ein Monat ganz ohne Versicherungsschutz ist rechtlich nicht vorgesehen. Meldet sich jemand verspätet, stellt die Krankenkasse die Mitgliedschaft rückwirkend fest und erhebt Beiträge für den gesamten Zeitraum. Der Mindestbeitrag in der GKV liegt 2025 bei 205,97 Euro pro Monat – ermäßigter Satz ohne Krankengeld, inklusive durchschnittlichem Zusatzbeitrag von 2,5 Prozent, auf Basis der Mindestbemessungsgrundlage 1.248,33 Euro. Pflegeversicherung kommt hinzu – mindestens 44,94 Euro für Versicherte mit Kindern und 52,43 Euro für Kinderlose. Damit ergeben sich mindestens rund 251 bis 258 Euro pro Monat. Genau diese Nachforderungen entstehen oft aus Unwissenheit und wachsen schnell an. Wer hilfebedürftig ist, sollte sofort die Übernahme der Beiträge nach SGB II oder SGB XII prüfen lassen und umgehend Kontakt mit der letzten Kasse aufnehmen.
Für wen gilt der Mindestbeitrag
Der Mindestbeitrag betrifft freiwillig gesetzlich Versicherte. Beiträge werden mindestens aus der Mindestbemessungsgrundlage berechnet. Rechtsgrundlage sind § 240 SGB V und die bundeseinheitlichen Grundsätze des GKV-Spitzenverbands.
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Warum es trotzdem passiert
Die Pflicht beantwortet nicht automatisch die Fragen nach Zuständigkeit, Nachweisen und Geld. Typische Hürden:
- Unklare Vorversicherung – GKV oder PKV
- Fehlende Unterlagen – etwa nach Umzug oder Auslandsjahren
- Rückstände – Angst vor Forderungen, fehlende Zahlungsfähigkeit
- Wissenslücken – unklare Regeln, Unsicherheit beim Wiedereinstieg
Solche Hürden bremsen den Zugang und verlängern Zeiten ohne Schutz.
Folgen für Betroffene und Einrichtungen
Akute Notfälle müssen behandelt werden. Krankenhäuser können als Nothelfer ihre Kosten beim Sozialhilfeträger geltend machen – § 25 SGB XII. Die Erstattung ist jedoch eng begrenzt. In der Realität bleiben Kliniken und Praxen immer wieder auf Teilen der Kosten sitzen. Außerhalb von Notfällen behandeln viele Einrichtungen nur gegen Vorkasse. Wer keine Karte und keinen Anspruchsnachweis vorlegt, erhält eine Privatrechnung – Schulden entstehen schnell, Therapien werden abgebrochen oder gar nicht begonnen.
Wege zurück in den Schutz – praktische Schritte
- Letzte Kasse kontaktieren
Wer zuletzt gesetzlich versichert war oder dem GKV-System zugeordnet wird, hat Anspruch auf Aufnahme – § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V. Rückwirkende Beiträge sind möglich, die seit 2013 reduzierten Säumniszuschläge erleichtern die Einigung. - PKV-Status klären
Wer zuletzt privat versichert war, fällt in die PKV. Beim Notlagentarif besteht ein Grundschutz. Perspektivisch geht es um den Rückweg in den Normaltarif, oft durch Ratenvereinbarungen und Klärung offener Forderungen. - Notfall und Übergang
Bei akuter Erkrankung ist eine Behandlung im Krankenhaus gesichert. Parallel können Kliniken eine Nothelfer-Erstattung prüfen. Für Nichtnotfälle unterstützen Clearingstellen beim Nachweis der Vorversicherung, bei Anträgen und bei der Systemzuordnung. - Unterstützungsangebote nutzen
In vielen Städten gibt es Sprechstunden mit anonymen Behandlungsscheinen, Beratungen von Wohlfahrtsverbänden und kostenlose Rechts- oder Sozialberatungen. Je früher der Kontakt, desto schneller lassen sich Versorgungslücken schließen.
Was das für die Politik bedeutet
Fachnetzwerke fordern bundesweit einheitliche Verfahren, klare Zuständigkeiten und eine stabile Finanzierung der Übergangslösungen. Je schneller der Versicherungsstatus geklärt ist, desto geringer die Folgekosten – für Betroffene, für Einrichtungen, für öffentliche Kassen. Die Spannweite zwischen 61.000 offiziell und bis zu 800.000 in Schätzungen erhöht den Druck, die Datenbasis zu verbessern und den Zugang zu vereinfachen.
Zwischen KV-Pflicht und Versorgungsrealität
Die Versicherungspflicht ist eindeutig, die Versorgungsrealität ist es nicht. Zwischen Regelversorgung und Notfall hat sich eine Grauzone gebildet – geprägt von Beitragsrückständen, unklaren Zuständigkeiten und fehlenden Nachweisen. Solange diese Hürden bestehen, bleiben offene Rechnungen und Schulden ein Dauerthema. Die Zahl 800.000 ist eine alarmierende Schätzung, die zeigt, wie groß die Lücke sein kann. Offiziell bleibt es bei 61.000 im letzten verfügbaren Jahr. Der Abstand zwischen beiden Werten macht deutlich, wo Politik und Praxis ansetzen müssen – beim schnellen Wiedereinstieg, bei klaren Prozessen, bei verlässlicher Übergangsfinanzierung.
Bürgergeld Krankenversicherung – Wer zahlt die Krankenkasse?
Zuschuss nur für die Krankenkasse vom Jobcenter – geht das?
Nach § 26 SGB II kann das Jobcenter Beiträge zur Krankenversicherung bezuschussen. Das gilt in zwei Konstellationen:
- Während des Bürgergeldbezugs: Wenn Betroffene freiwillig gesetzlich oder privat versichert sind und nicht über § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V pflichtversichert werden, gibt es einen Zuschuss zur Krankenversicherung, getrennt davon auch zur Pflegeversicherung. Gezahlt wird in der Regel direkt an Kasse oder PKV.
- Ohne laufendes Bürgergeld: Wenn allein durch die KV-Beiträge Hilfebedürftigkeit entstehen würde, kann das Jobcenter einen reinen KV-Zuschuss zahlen — genau in der Höhe, die Hilfebedürftigkeit verhindert. Rechtsgrundlage ist § 26 Abs. 2 und Abs. 5 SGB II.
Hinweis PKV: Der Zuschuss ist dort gedeckelt auf den halbierten Basistarif, 2025 maximal 471,32 Euro für die Krankenversicherung, zuzüglich eines gedeckelten Zuschusses für die Pflege.
Bürgergeld beantragt – automatisch GKV ab Antragsmonat?
Grundsatz: Wer Bürgergeld erhält, ist über § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V pflichtversichert in der GKV. Der Bürgergeld-Antrag wirkt auf den ersten Tag des Antragsmonats zurück. Damit beginnt die GKV-Pflicht in der Regel ab dem Monatsersten des Antragsmonats. Selbst bei einer späteren Bewilligung versichert das Jobcenter nach. Sobald man den Antrag beim Jobcenter abgegeben hat, kann man mit einer Bescheinigung an die Krankenkasse herantreten.
Wichtige Ausnahmen nach § 5 Abs. 5a SGB V: Wer unmittelbar zuvor privat krankenversichert war oder zu bestimmten nicht pflichtversicherten Personengruppen zählt, bleibt nicht GKV-pflichtig. In diesen Fällen bleibt die PKV bestehen, das Jobcenter zahlt den Zuschuss nach § 26 SGB II. Für nicht erwerbsfähige Personen entsteht ebenfalls keine eigene GKV-Pflicht, hier greift Familienversicherung oder Zuschuss.
- Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) – Beitrag vom 15.10.2025
- Destatis Mikrozensus 2019 mit rund 61.000 Menschen ohne Krankenversicherungsschutz
- Mindestbemessungsgrundlage und Beiträge an die GKV
- Rechtsprechung zum Nothelferanspruch

