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Bringschuld beim Bürgergeld: Beweislast soll auf Empfänger übergehen

Frau rennt mit Stapel von Bewerbungen zum Jobcenter - symbolisch für Beweislastumkehr

Die Beweislastumkehr beim Bürgergeld – demnächst Grundsicherungsgeld – soll vom Jobcenter auf die Empfänger übergehen – so der Vorschlag von Wolfgang Steiger, Generalsekretär des CDU-Wirtschaftsrats. Bürgergeld würde demnach nur weitergezahlt werden, wenn Betroffene ihre Arbeitsbemühungen fortlaufend und belastbar dokumentieren. Steiger spricht von einem notwendigen „Paradigmenwechsel“ und schließt damit an den Vorstoß von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann an, der diesen Kurs bereits Ende Juli für den Herbst angekündigt hat.

Warum kommt die Forderung zur Beweislastumkehr?

Die Idee ist nicht neu. Bereits im Sommer 2024 forderte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) eine Beweislastumkehr. Bürgergeld-Empfänger sollten demnach belegen, dass sie nicht arbeiten können oder sich ausreichend um Arbeit bemühen. Der Vorstoß löste deutliche Kritik aus – Grüne sprachen von Populismus, Sozialverbände warnten vor Generalverdacht.

Bürgergeld wird Grundsicherungsgeld: Das ändert sich 2026

Steigers Gastbeitrag für WELT knüpft daran an und stellt die These auf, dass die offiziell registrierten Fälle von Arbeits- oder Maßnahmenverweigerung viel zu niedrig seien. Als Referenz nennt er rund 23.400 Fälle im Jahr 2024 – aus seiner Sicht ein Befund, der sich durch eine Umkehr der Beweislast „auflösen“ ließe. Zusätzlich verweist er auf hohe No-Show-Quoten in einem Berliner Jobcenter.

Zur Einordnung der Zahlen: 2024 gab es im Durchschnitt 3.987.700 erwerbsfähige Leistungsberechtigte (ELB), die 72,5 Prozent der rund 5,5 Millionen Regelleistungsberechtigten ausmachen. Die 23.352 Sanktionen wegen Weigerung oder Fortführung entsprechen 0,59 % bzw. 5,9 je 1.000 ELB. Bezogen nur auf die 1.753.852 arbeitslosen Bürgergeld-Empfänger (44 % aller ELB) wären es 13,3 je 1.000 – allerdings zählen Sanktionen Vorgänge, nicht Personen, und „Weigerung“ umfasst auch Maßnahmeverstöße. Selbst bei großzügiger Verdopplung oder Verdreifachung – da Steiger die Zahlen anzweifelt – läge der Anteil nur bei rund 1,2 bzw. 1,8 % der ELB. Von einem Massenphänomen kann hier also keine Rede sein und es ist nicht unbedingt nachvollziehbar, warum die Politik in diesen Bereich so viel Anstrengung steckt.

Zusätzlich verweist er auf hohe No-Show-Quoten in einem Berliner Jobcenter. Seit Linnemanns Ankündigung eines „Herbsts der Reformen“ ist das Signal nun bundespolitisch gesetzt – Steiger liefert die Mechanik dazu.

Was bedeutet die Beweislast heute?

Nach geltendem Recht ermitteln Jobcenter den Sachverhalt von Amts wegen. Zwar gibt es eine Mitwirkungspflicht für Empfänger, doch für eine Sanktion muss die Behörde tragfähige Feststellungen treffen. Wer einen Termin versäumt oder ein Angebot ablehnt, darf Gründe vorbringen. Das ist der Grundmodus: Die Behörde begründet, Betroffene wirken mit. Die geforderte Beweislastumkehr würde diese Logik kippen und aus der Mitwirkung eine Dauer-Nachweispflicht machen.

Wie genau soll die „Beweislast“ funktionieren?

Kern des Mechanismus ist die „Bewerbung um Hilfe“, die regelmäßig zu erneuern wäre. Wer Bürgergeld erhält, müsste demnach lückenlos belegen, dass er aktiv die eigene Hilfebedürftigkeit beenden möchte. Konkret gefordert werden:

  • Dokumentierte Bewerbungen (Anschreiben, Absagen).
  • Proaktiver Kontakt zu Jobcentern oder privaten Vermittlern.
  • Nachweise über Fortbildungsbemühungen.
  • Die Bereitschaft, auch in „ungewohntem Terrain“ zu arbeiten.

Wer diese Dokumentation nicht lückenlos belegt, riskiert Leistungskürzungen. Rhetorisch schärft Steiger den Kurs mit einem Zitat von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Es gibt kein Recht auf Faulheit. Wer arbeiten kann, aber nicht will, kann nicht mit Solidarität rechnen.“

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Welche Folgen hätte die Beweislastumkehr?

Die Last würde auf der schwächsten Seite massiv steigen. Wer in Armut lebt, müsste neben dem Alltagsstress ein permanentes Beleg-Management stemmen: Bewerbungstagebücher, Screenshots, Absagen, Gesprächsnotizen und Kursbescheinigungen. Auswirkungen auf Empfänger und Jobcenter:

  • Bürokratie-Flut: Jobcenter müssten eine gewaltige Flut an Nachweisen prüfen und bewerten – mehr Akten und mehr Streitfälle wären die Folge.
  • Gefahr der Willkür: Ohne bundeseinheitliche, transparente Kriterien bekäme jedes Jobcenter große Deutungshoheit darüber, was als „ernsthaft“ gilt. Die perfekte Bewerbung gibt es nunmal nicht – Rechtschreibfehler oder ein lückenhafter Lebenslauf könnten schnell als Indikator für mangelnden Willen gewertet werden.
  • Erhöhte Fehlentscheidungen: Die Gefahr von Fehlentscheidungen zulasten der Bürgergeld-Empfänger würde steigen, da die Subjektivität in den Ermessensentscheidungen zunimmt.

Fazit

Am Ende der Kontrollspirale stünden viel Misstrauen und zusätzliche Bürokratie. Nachweise allein liefern zwar Werte für die Statistik, aber keine Arbeit – und die eigentliche Aufgabe, Vermittlung und Qualifizierung, droht in den Schatten der verschärften Kontrolle zu geraten.