Jobcenter dürfen das Bürgergeld bei fehlenden Unterlagen zu 100 Prozent versagen – ohne jede zeitliche Begrenzung. Genau das hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg in einem frisch entschiedenen Fall vom 15. April 2025 unter dem Aktenzeichen L 1 AS 1102/24 erneut bestätigt, was prompt für Schlagzeilen sorgte. Der Beschluss klingt drastisch, doch die Rechtslage ist alles andere als neu: Eine Versagung wirkt so lange fort, bis die geforderten Nachweise vollständig auf dem Tisch liegen. Neu ist nur, dass die Gerichte die alte Regel jetzt noch einmal glasklar bekräftigen – und damit zeigen, wie hart die Konsequenzen ausbleibender Mitwirkung tatsächlich sein können.
Anders als die oft diskutierten Bürgergeld-Sanktionen (§§ 31 ff. SGB II) ist eine Versagung nach § 66 SGB I keine Strafmaßnahme, sondern die zwangsläufige Folge fehlender Mitwirkung: Reicht der Antragsteller trotz mehrfacher, klar bezeichneter Aufforderungen keine prüfbaren Unterlagen ein, kann das Jobcenter die Bedürftigkeit nicht bewerten und setzt den Bürgergeld-Antrag deshalb vollständig auf „Null“, bis die Nachweise nachgereicht sind.
Wegen Formfehler: Jobcenter streicht Bürgergeld
Inhaltsverzeichnis
Sachverhalt: Was ist vorgefallen?
Der 1966 geborene Kläger bezog mit Partnerin und Sohn bis Sommer 2023 Bürgergeld. Nach einem Umzug endete der alte Bewilligungszeitraum. Am 10. August 2023 stellte er beim neuen Jobcenter einen Antrag auf Bürgergeld für die Zeit ab 1. September 2023, legte aber nur seine Aufenthaltserlaubnis vor – ohne weiterer Nachweise.
Noch am Antragstag forderte das Jobcenter Mietvertrag, lückenlose Kontoauszüge (ab 1. Juli 2023), Gewerbe-, Kfz-, Steuer- sowie Sorgerechtsnachweise an und drohte eine Versagung nach § 66 SGB I an. Vier Erinnerungen mit Fristen folgten bis 21. Dezember 2023. Der Kläger schickte nur eine EKS-Selbstauskunft und einen BG-Bescheid – zentrale Belege blieben aus.
Am 5. Februar 2024 erließ das Jobcenter einen Versagungsbescheid und setzte das Bürgergeld rückwirkend ab 1. September 2023 auf Null. Widerspruch und Klage (SG Berlin, Az. S 107 AS 2588/24) blieben ebenso ohne nachgereichte Unterlagen. Das LSG Berlin-Brandenburg (15. April 2025, L 1 AS 1102/24) bestätigte die unbefristete Totalversagung.
Warum das Jobcenter Bürgergeld versagen musste
§ 66 SGB I ist für Fälle konzipiert, in denen die Bedürftigkeit mangels Unterlagen nicht ermittelt werden kann. Der Kläger legte fast nichts vor, begründete sein Schweigen nicht – damit war das Ermessen des Jobcenters ausgeschöpft, eine Teilzahlung unvertretbar.
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Zu beachten ist, dass es sich hier nicht um eine „Totalsanktion“ handelt: Die Versagung entsteht nicht als Bestrafung, sondern weil das Amt mangels Mitwirkung faktisch handlungsunfähig ist. Sobald alle Belege vorliegen, kann der Antrag wieder aufleben und wird regulär entschieden. Ein Vergleich mit den derzeit heiß diskutierten Bürgergeld Sanktionen wäre daher irreführend – hier würde man Äpfel mit Birnen vergleichen.
Muss der Bescheid den Satz „bis zur Nachholung“ enthalten?
Das Bayerische LSG (Urteil L 16 AS 382/22 vom 13. Dezember 2023) vertritt eine strengere Linie: Nach seinen Leitsätzen muss ein Versagungsbescheid ausdrücklich festhalten, dass die Leistung nur bis zur Nachholung der Mitwirkung versagt wird. Ohne diesen Zusatz fehle laut der Münchner Richter
- die Transparenz – Betroffene könnten den Bescheid als endgültige Ablehnung missverstehen, und
- eine ordnungsgemäße Ermessensausübung – der Leistungsträger müsse aktiv über Umfang und Dauer der Versagung entscheiden; lasse er den Endpunkt offen, liege „Ermessensnichtgebrauch“ vor.
Das LSG Berlin-Brandenburg sieht den Zusatz im aktuellen Fall dagegen als verzichtbar, da die §§ 66 und 67 SGB I die Versagung ohnehin beenden können, sobald vollständig mitgewirkt wird.
Praxisfalle: Auch wenn der Hinweis juristisch nicht zwingend ist, kann sein Fehlen dazu führen, dass Betroffene gar nicht erst nachreichen – schlicht, weil sie den Bescheid irrtümlich für endgültig halten.
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Wer besonders hart getroffen wird
Eine 100 %-Versagung des Bürgergeldes trifft vor allem Menschen, die tatsächlich hilfebedürftig sind und ohnehin mit Schwierigkeiten im Leben kämpfen:
- Wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit bedrohte Personen haben häufig keinen sicheren Ort, an dem sie Unterlagen aufbewahren können.
- Psychisch Erkrankte, Menschen mit Suchterkrankungen oder auch mit Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben verlieren leicht den Überblick über Fristen und Post in amtlichen Behördendeutsch.
- Zugewanderte ohne gefestigte Deutschkenntnisse scheitern oft an amtlichen Formulierungen oder an der Beschaffung ausländischer Nachweise.
Die Totalversagung betrifft nicht nur den Regelbedarf, sondern die komplette Bürgergeld Zahlungen – demzufolge auch Miete, Heizkosten oder Kranken- und Pflegeversicherung – man steht buchstäblich völlig mittellos da. Werden die fehlenden Unterlagen erst Jahre später nachgereicht, begrenzt die Ein-Jahres-Regel zum Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X mögliche Nachzahlungen – frühere Monate bleiben endgültig ungedeckt, selbst wenn die Hilfebedürftigkeit für diese Zeiträume im Nachhinein eindeutig nachweisbar wäre.
Was tun bei einem Versagungsbescheid?
Bevor ein Versagungsbescheid ergeht, wird das Jobcenter im Vorfeld bereits mehrfach Unterlagen unter Fristsetzung angefordert haben – nur wenn diese – wie im aktuellen Fall – ergebnislos bleiben, ergeht als letztes Mittel des Leistungsträgers der Versagungsbescheid. Dabei darf dieser nicht mit dem Ablehnungsbescheid verwechselt werden, da die Unterschiede gravierend sind:
- Versagungsbescheid (§ 66 SGB I) ergeht, wenn das Jobcenter die Hilfebedürftigkeit nicht prüfen kann, weil Unterlagen fehlen. Er setzt die Leistung vorläufig „auf Null“, bis die Mitwirkung nachgeholt ist.
- Ablehnungsbescheid wird erlassen, wenn dem Jobcenter alle relevanten Fakten und Nachweise vorliegen und es hierdurch feststellt, dass keine Hilfebedürftigkeit gegeben ist, sei es bspw. durch zu hohes Einkommen oder anderer Ausschlussgründe.
Rechtsmittel und sinnvolle Schritte
- Widerspruch binnen eines Monats – Nur gegen den Versagungsbescheid selbst möglich, nicht gegen bloße Mitwirkungsaufforderungen. Der Widerspruch stoppt die Bestandskraft und hält den gesamten Zeitraum seit Antragstellung bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens offen.
- Fehlende Unterlagen nachreichen – Kontoauszüge (meist 6 Monate rückwirkend), Mietverträge, Einkommensnachweise, Arbeits- oder Gewerbeunterlagen, Vermögensnachweise etc.
- Eilrechtsschutz beim Sozialgericht – Liegen alle Belege vor und zahlt das Jobcenter trotzdem nicht, kann eine einstweilige Anordnung binnen Tagen eine vorläufige Leistung sichern.
- Überprüfungsantrag (§ 44 SGB X) – Wurde der Bescheid bestandskräftig, öffnet nur dieser Antrag den Fall erneut. Nachzahlungen sind dann aber auf maximal zwölf Monate vor dem 1. Januar des Antragsjahres begrenzt.
Betroffene sollten Angebote in ihrer Umgebung prüfen, z.B. auf kostenlose Sozialberatungen und Erwerbsloseninitiativen. Gleichzeitig kann man einen Fachanwalt für Sozialrecht aufsuchen (mit Beratungshilfe möglich).
Abschließende Einordnung
Rechtlich ist das Ergebnis des aktuellen Beschlusses keineswegs spektakulär oder neu – Streng genommen wäre eine ausführliche Gerichtsrunde gar nicht nötig gewesen: Die §§ 66 und 67 SGB I verpflichten das Jobcenter, eine Versagung wieder aufzuheben, sobald alle Unterlagen nachgereicht sind und die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. Entscheidend ist, wie das Verfahren offen bleibt: Entweder geschieht die Nachzahlung von Amts wegen, weil ein Widerspruch oder eine Klage noch anhängig ist, oder sie erfolgt nach Bestandskraft auf Basis eines formellen Überprüfungsantrags (§ 44 SGB X), dem die fehlenden Belege beigefügt werden. Das Etikett „ohne zeitliche Begrenzung“ greift also nur, wenn die Mitwirkung tatsächlich dauerhaft ausbleibt.
Die bayerische Rechtsprechung aus dem Jahr 2023 stellt diese Linie nicht infrage, verlangt aber mehr Klarheit im Bescheid: Fehlt der Zusatz „bis zur Nachholung“, liegt nach Ansicht der Münchner Sozialrichter ein formaler Ermessensfehler vor. In solchen Fällen muss das Sozialgericht den Bescheid aufheben und das Jobcenter neu entscheiden – ein Umstand, der Betroffenen wertvolle Zeit verschaffen kann.