Das Aus für das Bürgergeld ist besiegelt. Die Koalition hat sich auf eine „Neue Grundsicherung“ geeinigt, die einen klaren Kurswechsel hin zu massiver Sanktionsverschärfung und strenger Bedürftigkeitsprüfung markiert. Was politisch als „gerechtere Balance zwischen Fordern und Fördern“ verkauft wird, ist für Experten und Sozialverbände ein Frontalangriff auf das Existenzminimum und ein kalkulierter Verfassungsbruch. Für die Betroffenen bedeutet die Reform des SGB II vor allem: mehr Druck, mehr Bürokratie und das reale Risiko der Obdachlosigkeit.
Inhaltsverzeichnis
Verschärfte Sanktionen und Totalsanktionen
Die neue Logik beschleunigt und erhöht die Strafen für Pflichtverletzungen und Meldeversäumnisse massiv. Zudem werden die Vertrauensgrundsätze bei Vermögen und Wohnkosten komplett aufgehoben.
Bereich | Bürgergeld | Neue Grundsicherung (geplant) |
---|---|---|
Erste Pflichtverletzung | Minderung des Regelsatzes um 10 % für einen Monat. | Minderung des Regelsatzes um 30 % für drei Monate. |
Meldeversäumnisse (Termine im Jobcenter) | Jedes Versäumnis: 10 % Kürzung des Regelsatzes. | Kaskade: Nach dem ersten Versäumnis zweite Einladung; erst das zweite unentschuldigte Versäumnis führt zu 30 % Kürzung für drei Monate. |
Totalsanktion des Regelsatzes | 100 %-Streichung nur bei beharrlicher Arbeitsverweigerung möglich. | Nach dem dritten unentschuldigten Terminversäumnis droht vollständige Streichung des Regelsatzes. |
Kosten der Unterkunft (KdU) | Wohnkosten grundsätzlich von Sanktionen ausgenommen. | Bei anhaltender Verweigerung nach Totalsanktion kann auch KdU eingestellt werden (Obdachlosigkeitsrisiko). |
Karenzzeit Vermögen | 12-monatige Karenzzeit schützte Vermögen bis 40.000 € (Einzelperson). | Karenzzeit entfällt vollständig; Vermögen wird sofort streng geprüft. |
Schonvermögen | 15.000 € Schonvermögen pro Person nach der Karenzzeit. | Kopplung an Lebensleistung (Alter, Beitragszeiten) vorgesehen. |
Karenzzeit Wohnkosten (KdU) | Tatsächliche Wohnkosten 12 Monate lang übernommen. | Angemessenheit der Wohnkosten wird sofort geprüft. |
Vorrang der Vermittlung | Vorrang der Qualifizierung für nachhaltige Integration. | Vorrang der Vermittlung in kurzfristige Arbeit wieder Standard. |
Einigung: Bürgergeld wird Neue Grundsicherung – Totalsanktionen nach drittem Fehltermin
Kritik: Ein Angriff auf die Verfassung und die Schwächsten
Die Koalition argumentiert, sie gehe lediglich „bis an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist“. Kritiker aus Sozialverbänden, Politik und Gewerkschaften sehen diese rote Linie jedoch weit überschritten. Die geplanten Totalsanktionen stellen demnach einen direkten Angriff auf das grundgesetzlich geschützte Existenzminimum dar.
Harald Thomé (Sozialexperte, Tacheles e.V.)
Thomé warnt eindringlich vor den existenzvernichtenden Folgen der Sanktionsverschärfungen:
Drei Terminversäumnisse – und dann ist das Existenzminimum weg? Das ist eine existenzvernichtende Maßnahme. Menschen, die Termine versäumen, haben oft psychische Probleme, Schulden oder soziale Ängste. Diese werden nun direkt in die Obdachlosigkeit getrieben.
Philip Türmer (Jusos)
Türmer kritisiert die primär politische Motivation der Reform und die Vernachlässigung der eigentlichen Probleme:
Anstatt die Jobcenter mit mehr Personal für eine bessere Betreuung auszustatten, liefert man ihnen den Knüppel der Totalsanktion. Die Ursachen von Langzeitarbeitslosigkeit werden ignoriert zugunsten einer primitiven Bestrafungslogik.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband (Sozialverbände)
Der Verband kritisiert insbesondere die Abschaffung der Karenzzeiten und warnt vor der Rückkehr zur Stigmatisierung:
Die sofortige Prüfung von Vermögen und Wohnkosten führe zur Demütigung der Betroffenen und mache die Grundsicherung wieder zu einer Misstrauens- und Schamleistung.
Zentrale Befürchtungen des DGB und der Sozialverbände:
- Verfassungsrechtliche Klagen: Die geplanten Sanktionen – insbesondere die Streichung der Kosten der Unterkunft (KdU) – werden nach Ansicht der Kritiker keinen Bestand vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) haben. Das Gericht hat bereits 2019 in seinem Urteil (1 BvL 7/16) enge Grenzen gezogen, die eine 100%-Kürzung des Regelsatzes und erst recht der Unterkunftskosten in dieser Form ausschließen.
- Der „Drehtür-Effekt“: Der Vorrang der Vermittlung vor der Qualifizierung wird Menschen in schlecht bezahlte, unpassende Jobs drängen. Sie verlieren diese schnell wieder, was den Dauerbezug der Grundsicherung nicht mindert, sondern lediglich die Jobcenter-Statistiken kurzfristig „schönt“.
- Keine Lösung für Langzeitarbeitslosigkeit: Die verschärfte Repression wird die Gruppe der langzeitarbeitslosen, multiplen Problemfällen nicht erreichen, sondern ihre Situation nur verschärfen, da deren Hemmnisse (Krankheit, Sucht, Schulden) nicht durch Bestrafung gelöst werden.
Hartz IV 2.0? Die Rückkehr zur Angst
Die Neue Grundsicherung gleicht in vielen Kernpunkten dem alten System von Hartz IV vor dem wegweisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019:
- Hartz IV: Nach dem wegweisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts (1 BvL 7/16) von 2019 waren Kürzungen des Regelsatzes auf maximal 30 % begrenzt. Das Gericht erklärte höhere Sanktionen als verfassungswidrig, da sie das Existenzminimum unterschritten.
- Die Neue Grundsicherung: Mit der 30 % Sofortkürzung für drei Monate und der 100 % Streichung des Regelsatzes nach drei verpassten Terminen (inklusive KdU-Gefahr) wird das damalige Angstsystem de facto wieder eingeführt, indem die verfassungsrechtlichen Grenzen bewusst bis zum Äußersten ausgereizt werden.
Der Fokus verschiebt sich klar von der kooperativen Betreuung des Bürgergeldes zurück zur rigiden Kontrolle und Bestrafung. Für die vielen Leistungsberechtigten bedeutet die Neue Grundsicherung damit: Das Netz wird enger, der Fall tiefer. Wer nicht funktioniert, riskiert, buchstäblich alles zu verlieren.
Zeitlicher Rahmen der Reform
Die Koalition strebt eine rasche Umsetzung der „Neuen Grundsicherung“ an. Nach derzeitigen Schätzungen und politischen Ankündigungen wird die Reform voraussichtlich im Laufe des Jahres 2026 in Kraft treten, wobei Mitte 2026 als realistischer Starttermin gilt. Leistungsberechtigte und Jobcenter müssen sich jedoch schon jetzt auf diesen tiefgreifenden Systemwechsel einstellen.
Was die Reform für Betroffene konkret bedeutet
Die massiven Verschärfungen erfordern eine Anpassung der Verhaltensweise im Umgang mit dem Jobcenter. Für Leistungsempfänger bedeuten die neuen Regeln:
- Terminpflicht: Termine müssen unbedingt wahrgenommen oder rechtzeitig entschuldigt werden, da wiederholte Versäumnisse künftig schneller zu massiven Kürzungen führen und die Totalsanktion droht.
- Post vom Jobcenter prüfen: Bescheide, Anhörungen und Fristen müssen unbedingt im Blick behalten werden. Bei Unklarheiten sollte sofort eine unabhängige Beratung (Sozialberatung, Erwerbsloseninitiativen) genutzt werden.
- Gesundheitliche Gründe dokumentieren: Für gesundheitlich stark eingeschränkte Personen sollen weiterhin Ausnahmen gelten. Entsprechende Atteste und ärztliche Dokumentationen müssen rechtzeitig beim Jobcenter eingereicht werden, um Härtefälle zu vermeiden.
Fazit und Ausblick
Die geplante „Neue Grundsicherung“ ist mehr als nur ein Namenswechsel oder eine kosmetische Korrektur. Sie stellt einen fundamentalen politischen Richtungswechsel dar, der die soziale Sicherung in Deutschland zurück zu den Prinzipien von Misstrauen, Kontrolle und existenzieller Bedrohung führt. Ob dieser Kurswechsel die Langzeitarbeitslosigkeit senkt oder lediglich die Zahl der Gerichtsverfahren erhöht, bleibt abzuwarten. Sicher ist nur: Die Debatte um das verfassungsmäßige Existenzminimum ist mit dieser Reform neu entfacht.