Fortschritt? Digital? Von wegen! Andere Betriebe sind längst verpflichtet, Arbeitsunfähigkeitsdaten elektronisch bei der Krankenkasse abzurufen. Die Bundesagentur für Arbeit hat diese Entwicklung verpennt und stellt Bürgergeld-Beziehende damit bloß. Denn Betroffene müssen bei Arztbesuchen nach wie vor um eine schriftliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) bitten und sich damit als Leistungsempfänger outen – auch, um die Gebühr von fünf Euro zu sparen.
Papier statt digital
Eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hatte schon 2023 offengelegt, dass Jobcenter keine elektronische AU (eAU) abrufen dürfen, weil die Rechtsgrundlage fehlt. Die simple Frage lautete: „Trifft es zu, dass Bezieherinnen und Bezieher von Bürgergeld im Krankheitsfall keine elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung beim Jobcenter einreichen können (…), da es keine Rechtsgrundlage dafür gibt?“
Krankenkasse: Zweiklassen-Gesellschaft auch bei Patientenakte
Die Antwort war ernüchternd: Es bedürfe eines datenschutzkonformen Verfahrens und einer gesetzlichen Grundlage, die zum Abruf der Daten berechtige. Die entsprechende Rechtsgrundlage dafür gebe es ab dem 1. Januar 2024. Die Konsequenz: Bürgergeld Bedürftige, die einen Nachweis erbringen müssen, wenn sie Termine aus Krankheitsgründen nicht wahrnehmen konnten, sind auf die eigentlich längst abgeschaffte Papierform der AUB angewiesen.
Der Entwurf zum Vierten Bürokratieentlastungsgesetz (BEG IV) sieht in Artikel 50 eine Änderung von § 56 SGB II vor. Damit dürfen auch Jobcenter eAUs künftig elektronisch abrufen – allerdings frühestens ab 1. Januar 2027. Die Bundesregierung räumt selbst „notwendige IT-Programmierungen“ und eine mehrjährige Übergangsfrist ein.
Betroffene müssen „bitte, bitte“ machen
Eine gedruckte und vom Arzt unterschriebene Bescheinigung kostet regulär 5,00 Euro, muss für Bürgergeld-Bezieher allerdings kostenfrei ausgestellt werden. Das heißt: Jeder, der auf Bürgergeld angewiesen ist und krank wird, muss sich dem Arzt gegenüber als hilfebedürftig offenbaren.
Länder wollen Tempo
Ein FAQ-Papier der Techniker Krankenkasse bestätigt den Zeitplan: Arbeitsagenturen müssen seit 1. Januar 2024 abrufen, Jobcenter sind erst ab 2027 vorgesehen. Damit ist klar: Der Misstand bei den Jobcentern besteht noch mindestens zwei weitere Jahre.
Im Mai 2025 beschloss der Landtag Bremen einen Antrag der rot-grün-roten Koalition, der den Bund drängt, Bürgergeld-Empfänger endlich in das eAU-Verfahren einzubeziehen. Die Begründung: Ohne Rechtsgrundlage bleibe die Digitalisierung Stückwerk und belaste sowohl Ärzte als auch Jobcenter.
Jobcenter selbst bestätigen: „Weiter Papier!“
Das Hamburger Jobcenter team.arbeit.hamburg schreibt auf seiner Website unmissverständlich: „Wenn Sie Bürgergeld erhalten und sich beim Jobcenter krankmelden müssen, reichen Sie bitte weiterhin eine Bescheinigung ein. Das Jobcenter kann die Arbeitsunfähigkeitsdaten […] nicht elektronisch abrufen.“
Regierung muss sich entschuldigen
Jessica Tatti, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion, platzte angesichts eines solchen Versagens bereits 2023 der Kragen: „Die Regierung schuldet den Betroffenen, den Mitarbeitern der Jobcenter und Arbeitsagenturen sowie den Ärztinnen und Ärzten eine fette Entschuldigung.“
Jedem noch so kleinen Betrieb wird der elektronische Abruf der Daten zugetraut. Jobcenter und Arbeitsagenturen hingegen mussten erst 2024 (ALG I) respektive 2027 (Bürgergeld) ermächtigt werden. Und da viele Ärzte nicht wissen, dass sie die Bescheinigung für Bürgergeld-Beziehende kostenlos ausstellen müssen, kommt es entweder zum Konflikt oder Betroffene zahlen die Gebühr aus eigener Tasche, um Ärger zu vermeiden.
Zwar gehe es nur um fünf Euro, doch das sei symptomatisch dafür, wie man Bürgergeld Bedürftigen und Armutsbetroffenen „aus politischer Bequemlichkeit heraus“ das Leben noch schwerer mache, so der Vorwurf.
Würde wird nicht geachtet
Zur Erinnerung: Der frühere Koalitionsvertrag der Ampel war mit „Mehr Fortschritt wagen“ überschrieben. Und im Kapitel zum Bürgergeld fanden sich auch Begriffe wie „digital“, „Augenhöhe“ und „Würde des und der Einzelnen achten“. Stattdessen überwiegt die Bürokratie und indem Betroffene beim Arzt auch hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Situation die Hose herunterlassen müssen, entfernt man sich ganz weit von Würde und Augenhöhe.