Mehr als die Hälfte der erwerbsfähigen Bürgergeld-Empfänger sucht aktuell gar keinen Job. Das zeigt eine neue Studie des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung – und liefert damit genau die Schlagzeile, auf die Bürgergeld-Kritiker seit Monaten warten. Doch wer in die Zahlen schaut, merkt schnell: Die vermeintliche „Bequemlichkeit“ entpuppt sich als Mischung aus Krankheit, Überforderung und einem System, das viele Betroffene hängen lässt.
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57 Prozent ohne aktive Jobsuche – wer wurde befragt?
Grundlage der Untersuchung ist eine Befragung von 1.006 Bürgergeld-Empfängern zwischen 25 und 50 Jahren, die seit mindestens einem Jahr im Leistungsbezug sind und als erwerbsfähig gelten. Gefragt wurde, ob in den letzten vier Wochen aktiv nach Arbeit gesucht wurde.
Warum gehen Bürgergeld-Empfänger nicht einfach arbeiten?
Das zentrale Ergebnis: 57 % der Befragten gaben an, im zurückliegenden Monat überhaupt nicht nach einem Job gesucht zu haben. Unter den Männern lag dieser Anteil bei 53 %, bei den Frauen sogar bei 63 %. Die Studie betrachtet damit ausdrücklich Langzeit-Empfänger – also genau die Gruppe, die besonders schwer aus dem Leistungsbezug herauskommt.
Viele sind zu krank für den Arbeitsmarkt
Bereits auf den ersten Blick sticht ein Befund heraus: Ein großer Teil der Bürgergeld-Empfänger kämpft mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen. Insgesamt 45 % der Befragten berichten von einer psychischen oder chronischen Erkrankung. Bei denjenigen, die aktuell gar nicht suchen, ist dieser Anteil noch deutlich höher: Rund drei Viertel – konkret 74 % – führen gesundheitliche Gründe dafür an, dass sie keine Stellen recherchieren.
Damit wird klar, warum die „Hälfte sucht keinen Job“-Schlagzeile nur die halbe Wahrheit erzählt. Ein erheblicher Teil dieser Gruppe ist realistisch kaum in der Lage, regulär in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Für sie wäre eine dauerhafte Erwerbstätigkeit ohne vorherige Behandlung, Reha oder Teilzeitlösungen kaum zu stemmen.
Die Bertelsmann Stiftung fordert deshalb, bei solchen Fällen konsequenter zu prüfen, ob andere Systeme – etwa Erwerbsminderungsrente oder Sozialhilfe – besser passen. Bürgergeld ist als vorübergehende Grundsicherung gedacht, nicht als Dauerlösung für Menschen, die dem Arbeitsmarkt auf absehbare Zeit gar nicht zur Verfügung stehen können.
Kein Angebot, kein Anreiz, keine Perspektive
Wer keine gesundheitlichen Gründe angibt, nennt andere Hürden. Besonders häufig fällt das Stichwort fehlende passende Stellen: 49 % der Nicht-Suchenden sehen schlicht zu wenig geeignete Jobangebote. Ein Viertel, genauer 25,5 %, gibt an, dass sich eine Arbeitsaufnahme finanziell kaum lohnen würde. Weitere 22 % sind durch Kinder oder pflegebedürftige Angehörige so gebunden, dass eine reguläre Beschäftigung nicht in Frage kommt. 11 % halten sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser.
Diese Zahlen zeigen, dass es sich nicht um eine homogene Gruppe handelt, die einfach keine Lust auf Arbeit hätte. Viele haben reale Engpässe: fehlende Betreuungsplätze, lange Wege, körperlich schwere Jobs, die gesundheitlich nicht mehr machbar sind, oder Löhne, die im Vergleich zum Bürgergeld plus Wohngeld kaum Mehrwert bieten.
Jobcenter bieten zu selten konkrete Chancen
Ein weiterer Befund der Studie trifft die Jobcenter direkt: Knapp 43 % der Befragten sagen, sie hätten noch nie ein Stellenangebot vom Jobcenter erhalten. 38 % berichten, sie hätten bisher keine Einladung zu einer Weiterbildungsmaßnahme bekommen. Frauen, insbesondere mit Kindern, werden deutlich seltener in Qualifizierungen geschickt als Männer.
Das ist brisant. Denn offiziell sollen Jobcenter Bürgergeld-Empfänger aktiv in Arbeit vermitteln und ihre Qualifikation stärken. Die Studie legt nahe, dass hier viel nach dem Zufallsprinzip läuft: Manche erhalten mehrere Angebote, andere jahrelang gar keines. Gerade Menschen mit niedrigem Bildungsstand brauchen aber gezielte Weiterbildung, um wieder Anschluss zu finden.
Bürgergeld-Realität: Jede zweite Vermittlung der Jobcenter läuft ins Leere
Wie viel Zeit fließt überhaupt in die Jobsuche?
Auch unter denen, die aktiv suchen, ist der Aufwand begrenzt. Nur 6 % der Befragten investieren 20 Stunden oder mehr pro Woche in die Jobrecherche. 26 % kommen auf bis zu neun Stunden pro Woche. Der Rest liegt dazwischen oder bleibt weit darunter. Die Studie spricht von „vergleichsweise wenig“ Zeitaufwand, was vor allem bei Langzeitarbeitslosen problematisch ist – denn je länger der Abstand zum Arbeitsmarkt, desto intensiver müsste die Suche eigentlich sein.
Gleichzeitig zeigt sich hier ein Teufelskreis: Wer gesundheitlich angeschlagen ist, familiär belastet oder von früheren Absagen frustriert, hat oft weder Kraft noch Vertrauen, stundenlang Bewerbungen zu schreiben. Die reine Stundenzahl greift also zu kurz, erklärt aber, warum viele im System hängen bleiben.
Wie groß ist die betroffene Gruppe?
Laut Studie handelt es sich nicht um eine Randerscheinung: Rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland beziehen Bürgergeld, sind arbeitslos gemeldet und gelten als grundsätzlich erwerbsfähig. Die Befragung konzentriert sich auf diejenigen, die seit mindestens einem Jahr dabei sind. Gerade hier zeigt sich, wie schnell kurzfristige Arbeitslosigkeit in Dauerbezug umschlagen kann, wenn Krankheit, fehlende Angebote und mangelnde Qualifizierung zusammenkommen.
Tabelle: Zentrale Zahlen der Studie im Überblick
| Indikator | Wert |
|---|---|
| Stichprobe Befragte | 1.006 Personen |
| Zeitraum ohne Jobsuche (letzte 4 Wochen) | 57 % |
| Davon Männer ohne Jobsuche | 53 % |
| Davon Frauen ohne Jobsuche | 63 % |
| Bürgergeld-Empfänger mit psychischer oder chronischer Erkrankung | 45 % |
| Nicht-Suchende mit gesundheitlichen Gründen | 74 % |
| Keine passenden Stellen als Grund | 49 % |
| Jobsuche lohnt finanziell nicht | 25,5 % |
| Gebunden durch Kinder- oder Angehörigenpflege | 22 % |
| Noch kein Stellenangebot vom Jobcenter erhalten | 43 % |
| Noch keine Weiterbildungsmaßnahme erhalten | 38 % |
| Aktiv Suchende mit ≥ 20 Stunden Jobsuche pro Woche | 6 % |
| Aktiv Suchende mit bis zu 9 Stunden pro Woche | 26 % |
Kritik: Verzerrtes Bild durch Fokus auf Langzeit-Empfänger
Der Paritätische Gesamtverband kritisiert vor allem die öffentliche Deutung der Ergebnisse. Die Studie beziehe sich ausschließlich auf Bürgergeld-Empfänger, die seit mehr als einem Jahr Leistungen erhalten. Menschen, die schnell wieder in Arbeit kommen, tauchen in den Zahlen nicht auf. Dadurch entsteht der Eindruck, „die Bürgergeld-Empfänger“ insgesamt würden nicht suchen – obwohl die Untersuchung nur die besonders schwierigen Fälle betrachtet.
Hinzu kommt: Selbst unter denjenigen, die formal nicht aktiv suchen, haben nach Angaben des Verbandes 59 % legitime Gründe wie Krankheit oder Teilnahme an Maßnahmen. Von den übrigen sind wiederum viele durchaus auf Arbeitssuche. Die plakative Aussage „Hälfte sucht keinen Job“ ist daher zugespitzt und lässt wichtige Differenzierungen weg.
Was die Studie wirklich zeigt
Am Ende bleibt ein ambivalentes Bild. Ja, ein großer Teil der langjährigen Bürgergeld-Empfänger sucht aktuell nicht aktiv nach Arbeit. Aber die Studie zeigt ebenso deutlich, dass es dafür handfeste Gründe gibt: gesundheitliche Probleme, fehlende Kinderbetreuung, zu wenig passende Stellen, unattraktive Löhne und Jobcenter, die oft eher verwalten als vermitteln.
Für die Politik bedeutet das: Wer Bürgergeld-Empfänger schneller in Arbeit bringen will, muss mehr tun, als den Druck zu erhöhen. Entscheidend sind:
- medizinische und psychologische Unterstützung
- verlässliche Betreuungslösungen für Kinder und Pflege
- echte Qualifizierungsangebote statt kurzfristiger Maßnahmen
- Jobcenter, die nicht nur kontrollieren, sondern aktiv an gute Stellen heranführen
Die Studie entlarvt damit weniger „fehlenden Willen“, sondern vor allem ein System, das Menschen mit hohen Hürden allein lässt.


