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Schwerbehinderung, Rente und GdB 50: Wegweisendes Urteil zwingt Behörde zum Handeln

Justitia Bronze Figut und Frauenhand hält Behinderten Abzeichen

Wer beim Amt nur den Satz „Ich brauche einen Behindertenausweis“ einreicht, stellt damit bereits einen vollwertigen Antrag – und setzt eine gesetzliche Uhr in Gang. Spätestens nach sechs Monaten muss die Behörde einen Bescheid erlassen: bewilligend, ablehnend oder – falls Unterlagen fehlen – als Versagungsbescheid. Reagiert sie nicht, können Betroffene vor dem Sozialgericht Untätigkeitsklage erheben (§ 88 SGG) und das Amt zum Erlass eines Bescheides zwingen. Genau das bekräftigte das Landessozialgericht Baden-Württemberg (Urteil vom 6. Dezember 2024, Az. L 8 SB 2779/24), als es einen Landkreis zur Bearbeitung dreier seit Jahren ignorierter Neufeststellungsanträge verpflichtete.

Zudem stellte das Gericht klar, dass ein Renten­bezug keine Schwer­behinderten­eigenschaft nachweist und dass ein formloses Schreiben als umfassender Antrag auf höheren GdB und Merkzeichen zählt.

Der Fall in Kürze

Die 1943 geborene Klägerin hatte seit 2019 einen festgestellten GdB 40. Zwischen Januar 2020 und März 2023 richtete sie drei knappe Schreiben an das Landratsamt, in denen sie eine Höherstufung ihres GdB auf 50 sowie einen Schwerbehindertenausweis mit den Merkzeichen G und H beantragte. Die Behörde reagierte nicht. Vor dem Sozialgericht Heilbronn scheiterte sie zunächst, weil das Gericht ihr Begehren lediglich als „Ausweiswunsch“ wertete.

In der Berufung sah das LSG die Sache anders: Schon das erste Schreiben stelle einen vollständigen Neufeststellungsantrag auf einen GdB 50 sowie die Merkzeichen G und H dar und hätte daher bearbeitet werden müssen.

Allerdings lehnte das LSG eine eigene Feststellung des höheren GdB ab; dafür fehlten ausreichende medizinische Gutachten. Stattdessen verpflichtete es das Landratsamt, die noch ausstehende Sachaufklärung vorzunehmen – etwa Befundberichte einzuholen oder eine ärztliche Begutachtung zu veranlassen – und erst dann einen förmlichen Bescheid zu erlassen. Damit machte das Gericht klar: Die Entscheidung über den GdB gehört in die Zuständigkeit der Behörde, die zuvor alle notwendigen medizinischen Fakten ermitteln muss.

Untätigkeitsklage gegen Jobcenter

Warum der Bescheid elementar ist

Ein Bescheid beendet das Verwaltungsverfahren und eröffnet alle weiteren Rechtswege. Erst nach einem Bescheid können Sie

  • Widerspruch erheben und zusätzliche Arztberichte vorlegen,
  • medizinische Gutachten veranlassen lassen,
  • Klage erheben, wenn der Widerspruch scheitert.

Ohne Verwaltungsakt bleibt Ihr Anliegen in der Schwebe – und damit auch steuerliche Nachteilsausgleiche, Mobilitätshilfen oder Pflege­mehrbedarf. Deshalb sieht § 88 SGG die Untätigkeitsklage vor, sobald sechs Monate Funkstille vergangen sind.

Rente ist nicht gleich GdB

Ein weitverbreiteter Irrtum lautet: Wer die Altersrente für schwerbehinderte Menschen bezieht, hat automatisch einen GdB 50. Das stimmt nicht. Diese Rente kann auch ohne festgestellte Schwerbehinderung gezahlt werden, zum Beispiel bei vor 1951 Geborenen mit früherer Berufs- oder Erwerbs­unfähigkeit. Rentenbescheide nennen keinen Grad der Behinderung und ersetzen daher keinen Feststellungsbescheid des Versorgungsamts. Wer Nachteilsausgleiche nach dem Schwerbehindertenrecht möchte, braucht immer einen gesonderten GdB-Antrag.

Merkzeichen G & H – so werden sie Teil des Verfahrens

Die Klägerin begehrte die Merkzeichen G („erhebliche Gehbehinderung“) und H („Hilflosigkeit“). Das LSG stellte fest: Schon der Wunsch nach einem Ausweis „mit den Buchstaben G oder H“ ist als Antrag auf Prüfung dieser Merkzeichen auszulegen. Ein Ausweis darf jedoch erst ausgegeben werden, wenn ein Bescheid sowohl einen GdB ≥ 50 als auch die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen bestätigt. Merkzeichen bringen handfeste Vorteile – etwa Freifahrten oder Kfz-Steuer­ermäßigung (G) und erhöhte Pflege- bzw. Bürgergeld-Leistungen (H). Damit die Behörde sie anerkennt, sollten Sie Verschlechterungen Ihrer Mobilität oder Ihren Hilfebedarf klar schildern und nach Möglichkeit mit Arztberichten belegen.

Das Meistbegünstigungs­prinzip rettet knappe Anträge

Gerichte müssen Anträge laienfreundlich „sachdienlich“ auslegen. Wer als Nichtjurist einen Behindertenausweis verlangt, stellt damit automatisch einen Antrag auf Höherstufung des GdB und die benötigten Merkzeichen. Das Sozialgericht Heilbronn hatte diese Pflicht übersehen; das LSG korrigierte den Fehler und rief das Meistbegünstigungsprinzip ausdrücklich in Erinnerung.

So gehen Sie Schritt für Schritt vor

  1. Schreiben abgeben
    Formlos oder auf Vordruck: „Ich beantrage die Neufeststellung meines GdB, die Merkzeichen G und H und einen Ausweis.“ – startet die Sechs-Monats-Frist.
  2. Unterlagen nachreichen
    Arztbriefe, Befunde, Pflegegrad-Bescheide oder Schweige­pflicht­ent­bindungen zügig einschicken; das erleichtert die Sachentscheidung und verhindert einen Versagungsbescheid.
  3. Sachstand anmahnen
    Nach etwa drei Monaten schriftlich nachhaken; das dokumentiert den Fristlauf und zeigt Engagement.
  4. Untätigkeitsklage einreichen
    Nach sechs Monaten gebühren- und anwaltfrei zum Sozialgericht; die Klage zwingt das Amt, endlich zu entscheiden.

Was, wenn der Bescheid negativ ist?

  • Widerspruch (Frist: 1 Monat) – hier können Sie weitere Gutachten oder Befunde beibringen.
  • Klage beim Sozialgericht – prüfen lässt sich dann auch die medizinische Bewertung.
  • Berufung zum LSG – möglich bei Verfahrens- oder Rechtsfehlern, etwa einer zu engen Antragsauslegung.

Ein Renten­bescheid macht niemanden automatisch „schwerbehindert“, und ohne förmlichen Verwaltungsakt bleiben alle Ansprüche stecken. Das LSG-Urteil zeigt: Ein einziger formloser Brief genügt, damit das Amt Ihren GdB und die Merkzeichen prüfen muss. Kommt innerhalb von sechs Monaten kein Bescheid, ist die Untätigkeits­klage die nächste Etappe in den Rechtsweg.

Mehrbedarf bei Behinderung – bis zu 35% Bürgergeld Zuschlag

Welche Vorteile bringt ein GdB von 50 gegenüber 40?

BereichGdB 40GdB 50 (= rechtliche Schwerbehinderung)
Rechtsstatus„Behinderung“, aber keine Schwerbehinderung (§ 2 Abs. 1 SGB IX)Automatische Anerkennung als schwerbehindert
KündigungsschutzNur bei Gleichstellung (Antrag bei der Agentur für Arbeit nötig)Besonderer Kündigungsschutz ohne Antrag (§ 173 SGB IX): Arbeitgeber brauchen vorher Zustimmung des Integrationsamts
Zusatzurlaubkeinermind. 5 Arbeitstage pro Jahr (§ 208 SGB IX)
Behinderten-Pauschbetrag (Steuer)860 € (Stand 2025)1.140 € – also 280 € mehr (§ 33b EStG)
Altersrente für schwerbehinderte Menschennicht möglich2 Jahre früher (abschlagsfrei) bzw. 3 Jahre früher (mit Abschlag) in Rente gehen (§ 37 SGB VI)
ÖPNV-Vergünstigungen / Kfz-Steuererst ab Merkzeichen G, das meist GdB ≥ 50 voraussetztAnspruch auf Freifahrt oder ermäßigte Wertmarke mit Merkzeichen G; ggf. Kfz-Steuer­befreiung/-ermäßigung
Parkerleichterungen, Hilfsmitteli. d. R. neinmöglich bei zusätzlichen Merkzeichen (etwa aG, H, B)
Arbeitgeber-PflichtenUnternehmen ≥ 20 MA müssen Schwer­behinderte beschäftigen oder Ausgleichsabgabe zahlen; dadurch bessere Vermittlungs­chancen
Eingliederungshilfe & Reha-Leistungeneingeschränkter ZugangPriorisierter Zugang zu Leistungen zur Teilhabe, z. B. Berufsförderung, Hilfsmittel

Was bedeutet „Gleichstellung“ bei GdB 40?

Wer „nur“ GdB 30 oder 40 hat, kann sich gleichstellen lassen (§ 151 SGB IX). Man erhält dann Kündigungs- und Arbeitsplatzschutz ähnlich einer Schwerbehinderung – aber:

  • kein Schwerbehinderten­ausweis
  • kein Zusatzurlaub
  • keine steuerlichen Mehrbeträge oder ÖPNV-Vergünstigungen
  • kein früherer Rentenbeginn