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LSG-Urteil zur Angemessenheit von barrierefreiem Wohnraum

Mann im Rollstuhl in seiner Küche

Eine angemessene Wohnung zu finden, gleicht bei Bürgergeldempfängern der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Für Betroffene, die aufgrund einer Behinderung auf barrierefreien Wohnraum angewiesen sind, ist es nahezu unmöglich, etwas Passendes aufzutun. Daher fordert das Landessozialgericht Baden-Württemberg von den zuständigen Behörden, selbst Daten zu Preis und Verfügbarkeit zu erheben – anderenfalls müssen auch nicht angemessene Kosten in voller Höhe getragen werden.

Streit um die Miete

Der Fall, der in erster Instanz vor dem Sozialgericht Konstanz und schließlich vor dem Landessozialgericht Baden-Württemberg verhandelt wurde, ist gespickt mit Zahlen und Daten. Denn es geht um angemessenen Wohnraum. Maßgeblich sind daher die Größe der Wohnung, die Miete und die Kosten für Heizung sowie Warmwasser. Darüber wurde lange gestritten, bis das Landessozialgericht ein Machtwort sprach und auch die Behörde in die Pflicht nahm.

105 Quadratmeter Wohnung

Geklagt hatte ein 1957 geborener Mann, der seit 1998 erwerbslos ist und von 2005 bis 30.04.2021 Rente wegen voller Erwerbsminderung von der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft Bahn-See bezog – seit 01.05.2021 erhält der Kläger Altersrente. Am 8. Oktober 2019 beantragte er Leistungen der Grundsicherung im Alter – die der Höhe des Bürgergelds entsprechen – und bei Erwerbsminderung. Wichtig: Der Kläger hat einen Grad der Behinderung von 80 Prozent. Er wohnt seit Juli 2011 in einer 105 Quadratmeter großen Vierzimmer-Wohnung, in der bis 2019 auch seine Frau und die Tochter lebten. Die Wohnung ist barrierefrei ausgerichtet und es gibt einen Aufzug. Dafür berechnet der Vermieter 720 Euro Kaltmiete und 260 Euro Nebenkosten.

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Angemessen: 45 Quadratmeter

Es kam, wie es kommen musste: Das Amt wies den Mann darauf hin, dass die Wohnung zu groß ist. Angemessen seien 45 Quadratmeter. Daher müsse er sich intensiv um die Kostenreduzierung bemühen. Kurzum: Es wurde ein Kostensenkungsverfahren eingeleitet, sodass dem Mann sechs Monate blieben, eine andere, kleinere und günstigere Wohnung zu finden. Die Bemühungen sollte der Kläger nachvollziehbar nachweisen.

Zu klein für Rollstuhl und Gehstützen

Dagegen wehrte sich der Mann. Mit einem Rollstuhl oder Gehstützen könne er sich nur schwer in einer 45-Quadratmeter-Wohnung bewegen. Überdies benötige er einen Raum, in dem die Pflegekraft bis zu 15 Nächte im Monat schlafen könne. Daher verwies der Kläger auf den Mehrbedarf wegen Schwerbehinderung. Das Amt kam dem Mann entgegen, indem man ihm aufgrund der COVID-19-Übergangsregelung etwas mehr Zeit ließ.

Sozialgericht hält 60 Quadratmeter für angemessen

In der eigentlichen Streitfrage konnte man sich nicht einigen. Daher landete der Fall vor dem Sozialgericht Konstanz. Dort entschied man, dass dem auf Grundsicherung im Alter angewiesenen Mann eine 60 Quadratmeter große Wohnung zustehe. Das Amt habe den Grad der Behinderung nicht berücksichtigt, ebenso wenig den Pflegegrad 3. Die Kosten für eine noch größere Wohnung seien jedoch nicht zu übernehmen.

Berufung beim Landessozialgericht

Gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt. Der Mann forderte weiterhin die Übernahme der kompletten Miete. Denn: Weder er noch seine Freunde hätten online, in der Zeitung oder Anzeigenmagazinen einen adäquaten Ersatz gefunden. Andere Wohnungen, die geeignet wären, seien „mindestens so teuer wie seine“.

Amt hat sich nicht über den Wohnungsmarkt informiert

Das Landessozialgericht wollte schließlich vom Amt wissen, ob man sich selbst ein Bild vom Wohnungsmarkt gemacht habe. Die Antwort: Es bestünden im strittigen Zeitraum keine beleg- und nachweisbaren Kenntnisse über Mietmarktangebote von verfügbaren ebenerdigen oder per Aufzug zu erreichenden und barrierefreien Wohnungen. Die Behörde betonte gleichzeitig, es für unwahrscheinlich zu halten, dass keine solchen Wohnungen angeboten oder annonciert worden seien.

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Barrierefreie Wohnungen sind teurer

Diese Aussage wurde schließlich gegen das Amt verwendet. Das LSG bezweifelte zum einen, dass die Angemessenheitsgrenzen einem schlüssigen Konzept folgen. Wichtiger aber: Die Behörde hätte selbst den Nachweis erbringen müssen, dass entsprechende Wohnungen vorhanden seien. Dass seitens des Leistungsträgers bei SGB-XII-Leistungsbezug keine konkrete Unterkunftsalternativen benannt werden müssen, gelte erst,

„wenn überhaupt Angaben zum Preis und zur abstrakten Verfügbarkeit solchen Wohnraums gegeben sind“.

Dazu habe der Leistungsträger keine Nachforschungen angestellt. Es sei allgemein bekannt, dass Wohnungen in Gebäuden mit Aufzügen und barrierefreien Umbauten teurer sind.

In anderen Worten: Erhebt das Amt keine Daten zum Preis und zur Verfügbarkeit,

„kann dies dazu führen, dass für einen Hilfebedürftigen, der auf einen solchen Wohnraum angewiesen ist, weiterhin die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung zu übernehmen sind“.

  • SG Konstanz, Aktenzeichen S 4 SO 1854/20 vom 16.07.2021.
  • LSG Baden-Württemberg, Aktenzeichen L 2 SO 2864/21 vom 14.06.2023.

Bild: Jenny Sturm/ shutterstock.com