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Bürgergeld-Empfänger dürfen Jobcenter ohne Ankündigung verklagen

Schild mit Bundesadler des Bundesverfassungsgerichts

Lässt sich das Jobcenter zu viel Zeit bei der Bearbeitung und überschreitet damit die gesetzlichen Fristen, müssen Bürgergeld-Empfänger nicht noch einmal anklopfen. Stattdessen können sie direkt eine Untätigkeitsklage erheben – ganz ohne vorherige Erinnerung. Dieses Vorgehen verstößt nach einem Beschluss des Bundes­verfassungs­gerichts auch nicht gegen die Schadensminderungs­pflicht.

Der konkrete Fall

Eine alleinerziehende Mutter bezog gemeinsam mit ihren beiden Kindern Bürgergeld. Bei der Berechnung des Anspruchs unterlief dem Jobcenter ein Fehler: Das Amt setzte das Erwerbs­einkommen zu hoch an, so dass der errechnete Bedarf zu niedrig ausfiel. Die Betroffene legte – vertreten von ihrem Anwalt – Widerspruch ein. Das Jobcenter erkannte den Fehler, hob den falschen Bewilligungsbescheid auf und bewilligte die korrekte Leistung.

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Anschließend beantragte der Anwalt im Auftrag der Hilfebedürftigen die Erstattung seines Honorars für das außergerichtliche Widerspruchsverfahren. Doch diesmal blieb das Jobcenter zunächst untätig: Sechs Monate lang geschah nichts. Erst eine Untätigkeits­klage vor dem Sozialgericht Darmstadt brachte Bewegung ins Verfahren und veranlasste die Behörde, die Anwaltskosten zu erstatten.

Streit um Schadensminderungspflicht

Als der Anwalt nun in einem weiteren Antrag auch die Kosten für die Untätigkeits­klage geltend machte, lehnte das Sozialgericht ab. Die Klage sei „mutwillig“ gewesen, die Leistungs­empfängerin hätte – so das Gericht – zunächst beim Jobcenter nachhaken müssen, ehe sie vor Gericht zog. Mit dieser Begründung versagte es ihr die Kostenerstattung und berief sich auf die Schadens­minderungs­pflicht (S 16 AS 333/21).

Karlsruher Korrektur

Die Leistungsempfängerin wollte es nicht hinnehmen, dass das Sozialgericht ihre Anwaltskosten nicht erstatten ließ. Also zog sie vor das Bundesverfassungsgericht, legte Verfassungsbeschwerde ein – und bekam Recht.

Das Bundes­verfassungs­gericht hob den Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt auf (1 BvR 311/22). Nach Auffassung der Karlsruher Richter ergibt sich aus Wortlaut und Systematik des Sozial­gesetzbuches keinerlei Pflicht, das Jobcenter vor einer Untätigkeitsklage nochmals zu erinnern. Wer die gesetzliche Wartefrist – üblicherweise drei Monate bei Anträgen bzw. ein Monat bei Widersprüchen – abwartet, darf unmittelbar Untätigkeitsklage erheben, ohne damit gegen Treu und Glauben oder die Schadens­minderungs­pflicht zu verstoßen.

Das Bundesverfassungsgericht verwies den Fall zur erneuten Entscheidung über die Kostenfestsetzung der Untätigkeitsklage an das Sozialgericht Darmstadt zurück. Zudem muss das Land Hessen der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren erstatten.

Kein Selbstläufer

Auch das Gegenteil ist möglich: In einem jüngeren Verfahren (1 BvR 1021/24) verneinte das Bundesverfassungsgericht die Kostenerstattung, weil gar keine echte Untätigkeit vorlag. Dort hatte das Jobcenter den streitigen Monat bereits beschieden, die Klägerin hätte die Unklarheit mit einem einfachen Anruf klären können. Da sie dennoch klagte, stufte Karlsruhe das Vorgehen als unnötig und damit nicht erstattungsfähig ein.