Den Beginn der Rente stellt man sich anders vor. Niemand möchte beim Sozialamt als Bittsteller die Hosen herunterlassen. Einem 66-jährigen Kläger blieb im Verfahren S 12 R 1202/25 ER vom 8. Mai 2025 genau das nicht erspart: Das Sozialgericht Karlsruhe wies seinen Eilantrag auf vorläufige Rentenzahlung ab und verwies ihn stattdessen an die Grundsicherung im Alter. Auch wenn dieser Beschluss juristisch korrekt ist, ist er gleichzeitig auch ein Schlag ins Gesicht für jeden, der jahrzehntelang Beiträge gezahlt hat.
Inhaltsverzeichnis
Sachverhalt
Der Mann, Jahrgang 1959, hatte seine Regelaltersgrenze am 1. April 2025 erreicht. Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) hatte bereits alle Versicherungszeiten erfasst, die persönlichen Entgeltpunkte gewichtet und konnte die künftige Rente damit beziffern. Was fehlte, war nur noch der endgültige Bescheid, damit die Rente endlich fließt.
Während die Formalien stockten, liefen Mahnungen auf, das Girokonto rutschte ins Minus. Der Versicherte bat die DRV mehrfach um eine vorläufige Zahlung, bevor er sich schließlich gezwungen sah, vor Gericht eine einstweilige Anordnung nach § 86b SGG zu beantragen.
Das Gericht wies den Eilantrag jedoch zurück. Hintergrund ist die zweistufige Prüfung des § 86b SGG: Zunächst musste der Kläger einen Anordnungsanspruch darlegen – also glaubhaft machen, dass ihm die Rente dem Grunde nach zusteht. Dieser ist unbestritten, da die DRV alle Versicherungszeiten längst bestätigt hatte. Auf der zweiten Stufe verlangt das Gesetz einen Anordnungsgrund: eine akute, schwerwiegende Notlage, die ohne sofortige Zahlung nicht abgewendet werden kann. Weil der Mann seinen Lebensunterhalt vorläufig über die – wenn auch nachrangige – Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII sichern könne, sah das Gericht keine existenzielle Bedrohung. Fehlt dieser Anordnungsgrund, scheitert ein Eilantrag folgerichtig selbst bei unbestrittenem Anspruch.
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Paradox – Nachrangiger Vorrang
Die Grundsicherung ist per Gesetz eine Leistung letzter Instanz. Sie soll erst dann einspringen, wenn niemand sonst hilft und wenn vorrangige Rechtsansprüche ausgeschöpft sind. Das belegen § 2 Abs. 2 und § 41 Abs. 2 SGB XII zur Grundsicherung im Alter ausdrücklich: Sozialhilfe tritt zurück, wenn der Betroffene sich über Rente, Unterhalt oder andere Ansprüche selbst versorgen kann. Doch das Karlsruher Urteil dreht die Reihenfolge um. Ein Rentner mit erworbenem Anspruch wird auf das Sozialamt geschickt – zu einer Leistung, die eigentlich nachrangig ist. Für die Betroffenen ist das stigmatisierend – für den Sozialstaat ist es widersprüchlich.
Vorschuss nach § 42 SGB I – genug Substanz, fehlender Wille
Der Gesetzgeber hat dieses Dilemma erkannt und in § 42 SGB I einen klaren Rettungsanker geschaffen: Steht der Anspruch dem Grunde nach fest, darf die DRV von Amts wegen oder auf Antrag einen Vorschuss zahlen. Im vorliegenden Fall lagen alle Fakten auf dem Tisch. Interne Auswertungen zeigen, dass sich der vorläufig ermittelte Rentenbetrag später selten um mehr als ein bis zwei Prozent verschiebt. Die finanzielle Substanz für einen Vorschuss war also vorhanden, das Rückzahlungsrisiko minimal. Dennoch verweist die DRV in ihren Dienstanweisungen auf einen förmlichen Antrag und setzt die Latte hoch. Wer zu spät die richtigen Formulare findet, erlebt unterdessen eine Null‑Liquidität, die ihn geradewegs ins Sozialamt treibt.
Bürokratie‑Pingpong – Doppelter Aufwand für den gleichen Euro
Sobald das Sozialamt einspringt, setzt sich eine schwerfällige Maschinerie in Gang. Die Kommune zahlt zunächst Grundsicherung aus Steuermitteln. Sobald die Rente Monate später endlich fließt, fordert sie das Geld beim Bund zurück. Zwei Behörden wälzen Akten, führen Verrechnungen, buchen Summen um – nur damit am Ende derselbe Euro bei derselben Person ankommt, die zuvor beim Sozialamt ihre gesamten persönlichen und finanziellen Verhältnisse offenlegen musste. Kommunale Spitzenverbände warnen seit Jahren, dass jeder vermeidbare Grundsicherungsfall Fachkräfte bindet, die andernorts fehlen. Die DRV könnte das verhindern, doch sie lässt die Verwaltungskosten lieber auflaufen.
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So vermeiden Rentner die Zahlungslücke
Die Deutsche Rentenversicherung verschickt an die Versicherten zwar jährlich eine Renteninformation, verzichtet aber auf ein konkretes Erinnerungsschreiben kurz vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze. Damit verschenkt sie eine einfache Chance, Anträge planbar zu bündeln und die eigene Sachbearbeitung zu entlasten. Wer früh erinnert wird, reicht seine Unterlagen rechtzeitig ein – das verhindert hektische Nachberechnungen und erspart beiden Seiten Doppeltarbeit.
Hinweis: Rechtlich gilt § 99 Abs. 1 SGB VI: Wird der Rentenantrag innerhalb von drei Monaten nach Erreichen der Regelaltersgrenze gestellt, beginnt die Zahlung rückwirkend mit dem Monatsanfang, in dem die Altersgrenze erreicht wurde. Kommt der Antrag später, fließt die Rente erst ab dem Antragsmonat.
Rentenberater und Sozialverbände raten daher, den Antrag sechs Monate vor dem Rentenbeginn einzureichen und monatlich nachzufassen, ob alle Versicherungs‑ und Entgeltunterlagen vollständig sind. Liegt vier Wochen vor Rentenstart noch kein Bescheid vor, sollte man schriftlich einen Vorschuss nach § 42 SGB I verlangen – anzumerken sei an dieser Stelle allerdings, dass der Vorschuss dann dennoch mit einem Monat Verzögerung nach Erreichen des Rentenbeginns auf dem Konto landet..
Ein System, das Vertrauen verspielt
Das Karlsruher Urteil ist juristisch folgerichtig, sozialpolitisch jedoch brandgefährlich. Es zwingt Menschen, die nach Jahrzehnten pflichtbewusster Beitragszahlungen geleistet haben, in ein Hilfesystem, das eigentlich nachrangig ist und zudem die vollständige Offenlegung aller persönlichen Verhältnisse. Gleichzeitig werden die kommunalen Haushalte belastet und die Verwaltungskosten in die Höhe getrieben. Solange die Deutsche Rentenversicherung Vorschüsse nicht aktiv anbietet und der Gesetzgeber zwar die Untätigkeitsklage nach sechs Monaten (§ 88 SGG) zulässt, aber keine deutlich kürzeren, verbindlichen Bearbeitungs‑ und Auszahlungsfristen festschreibt, bleibt der Rentenstart für viele ein Spießrutenlauf.
Quellen: