Mit dem Bezug einer Altersrente erlischt für gewöhnlich der Anspruch auf Bürgergeld, weil die Erwerbsfähigkeit dann nicht mehr gegeben ist – eine zentrale Voraussetzung der Grundsicherung nach SGB II. Es gibt jedoch Ausnahmen. Das zeigt ein Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg, das einem Bedürftigen trotz Altersrente Bürgergeld zuspricht.
Inhaltsverzeichnis
Der Fall in Kürze
Ein ehemaliger türkischer Polizeibeamter erhielt Bürgergeld, obwohl er eine türkische Altersrente bezog. Ausschlaggebend war, dass die Rente nicht aus freien Stücken, sondern im Kontext politischer Verfolgung bezogen wurde.
563 € Bürgergeld für abgelehnte Asylbewerber?
Hintergrund
Der Kläger (Jahrgang 1972) ist türkischer Staatsangehöriger und ehemaliger Polizeibeamter. Er wurde aus politischen Gründen aus dem Dienst entlassen, vorübergehend inhaftiert und anschließend strafverfolgt. Im Kontext der staatlichen Repression nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei floh er nach Deutschland und beantragte hier Schutz. Seine Familie blieb zunächst zurück und kam erst später zu ihm nach.
Antrag auf Asyl und Bürgergeld
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erkannte ihm die Flüchtlingseigenschaft zu, eine förmliche Asylanerkennung erfolgte jedoch nicht. Kurz darauf beantragte er Bürgergeld. Dabei gab er an, eine türkische Altersrente in Höhe von 3.000 TRY (umgerechnet etwa 180 € im Monat) zu beziehen, die er zur Sicherung des Lebensunterhalts seiner in der Türkei verbliebenen Angehörigen verwendete.
Jobcenter lehnt ab
Das Jobcenter lehnte den Antrag unter Verweis auf § 7 Abs. 4 SGB II ab. Danach sind Personen, die eine Altersrente oder eine vergleichbare öffentlich-rechtliche Leistung beziehen, grundsätzlich vom Bürgergeld ausgeschlossen. Der Betroffene klagte dagegen. Das Sozialgericht Stuttgart hob die Ablehnung auf und verpflichtete das Jobcenter zur Leistungsgewährung (S 22 AS 839/22).
Berufung und Ergebnis vor dem LSG
In der Berufung bestätigte das Landessozialgericht die Entscheidung zugunsten des Klägers (L 2 AS 2146/22). Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II greife hier nicht, weil der Kläger nicht freiwillig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei. Vielmehr sei er aufgrund politischer Verfolgung und Inhaftierung gezwungen gewesen, eine Rente zu beantragen, um den Lebensunterhalt seiner Familie sicherzustellen.
Begründung des Gerichts
- Keine freiwillige Statusänderung: Der Kläger ist nicht aus eigenem Entschluss oder wegen Erreichens einer Altersgrenze aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, sondern aufgrund politischer Zwangslagen.
- Sinn und Zweck von § 7 Abs. 4 SGB II: Die Norm soll verhindern, dass typischerweise endgültig aus dem Erwerbsleben Ausgeschiedene zusätzlich Grundsicherungsleistungen erhalten. Diese Annahme treffe hier nicht zu.
- Fortbestehende Erwerbsorientierung: Der Kläger zeigte in Deutschland erkennbaren Willen und Fähigkeiten zur Erwerbstätigkeit (u. a. Sprach- und Integrationskurse, Arbeitssuche).
Kernaussage
Der pauschale Leistungsausschluss für Bezieher einer Altersrente gilt nicht, wenn der Rentenbezug nicht Ausdruck eines regulären, freiwilligen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben ist, sondern auf außergewöhnlichen Zwangslagen beruht. In solchen Konstellationen kann trotz Altersrente ein Anspruch auf Bürgergeld bestehen.