Eine bereits bewilligte Prozesskostenhilfe (PKH) kann nicht durch eine bloße Anhörungsrüge wieder gestrichen werden – das gilt selbst dann, wenn der zugrunde liegende Eilbeschluss aufgehoben wird. Dies hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg mit Beschluss vom 07.07.2025 unter Az.: L 1 AS 502/25 B ER PKH entschieden.
Jobcenter verteidigt die Prozesskostenhilfe – Rollenwechsel im Gerichtssaal
Der Kläger bezog Bürgergeld nach dem SGB II. Mit Beschluss vom 12.12.2024 verpflichtete das Sozialgericht Berlin das Jobcenter, 606,63 € für November 2024 auszuzahlen, und gewährte dem Kläger ratenfreie Prozesskostenhilfe (PKH) nebst Anwaltsbeiordnung. Wenige Tage später legte das Jobcenter Anhörungsrüge ein, weil inzwischen ein endgültiger Bewilligungsbescheid vom 25.11.2024 vorlag. Das Sozialgericht nahm den Hinweis auf und kassierte am 23.04.2025 nicht nur den Zahlungsanspruch, sondern – ohne einen entsprechenden Antrag – auch die PKH.
Bürgergeld Wahnsinn: 50.000 Klagen gegen Jobcenter
Genau dieser Punkt brachte die ungewöhnliche Wendung: Das Jobcenter selbst legte am 24.05.2025 Beschwerde zum Landessozialgericht (LSG) ein, beschränkt auf den Teil, der die PKH betraf. Statt die Förderung des Bürgergeld Empfängers zu bekämpfen, wollte das Jobcenter (Antragsgegner im Verfahren) deren überraschende Aufhebung mit einer Beschwerde rückgängig machen. Im Beschluss heißt es:
„Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragsgegners vom 24. Mai 2025, soweit sich die Aufhebung auch auf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erstreckt.
Er beantragt, den Beschluss vom 23. April 2025 aufzuheben, soweit er die bewilligte Prozesskostenhilfe betrifft.“
LSG kippt den PKH-Entzug und rügt das Sozialgericht
Das LSG stellte zunächst klar, dass eine Beschwerde gegen PKH-Entscheidungen grundsätzlich nach § 172 Abs. 1 SGG zulässig ist. Der in Abs. 3 Nr. 1 normierte Ausschluss greift nur, wenn es um das Eilverfahren selbst geht – eine eigenständige PKH-Entscheidung gehört nicht dazu. Das Sozialgericht habe daher zu Unrecht angenommen, seine Aufhebung sei unanfechtbar.
Inhaltlich hielt das LSG fest, dass eine Anhörungsrüge (§ 178a SGG) den Rügenden nur schützt, wenn er durch die angegriffene Entscheidung in eigenen Rechten verletzt ist. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe belastet den Verfahrensgegner jedoch nicht – sie ist ein separater Kostenakt zugunsten des Bedürftigen. Damit konnte die Rüge des Jobcenters den PKH-Teil des ursprünglichen Eilbeschlusses gar nicht erfassen. Für eine amtswegige Aufhebung nach § 124 ZPO fehlten wiederum sämtliche Voraussetzungen wie arglistige Täuschung oder eine wesentliche Verbesserung der Vermögensverhältnisse des Klägers. Das LSG hob den Beschluss des Sozialgerichts daher exakt in dem Umfang auf, in dem er die PKH beseitigt hatte. Eine Kostenerstattung im Beschwerdeverfahren fand nicht statt.
Rechtsgrundlagen im Zusammenspiel
Die Entscheidung ruht auf vier zentralen Normen:
- § 172 SGG öffnet den Beschwerdeweg gegen Beschlüsse der Sozialgerichte. Eine Ausnahme besteht nur für Entscheidungen „über den Antrag selbst“ im Eilverfahren; PKH-Beschlüsse fallen nicht darunter.
- § 127 ZPO stellt klar, dass der Gegner durch die Bewilligung von PKH nicht beschwert ist und sie nicht anfechten kann – zugleich verdeutlicht die Regel aber, dass eine Aufhebung ohne Antrag aller Beteiligten besonders streng zu prüfen ist.
- § 124 ZPO beschreibt die engen Voraussetzungen, unter denen bewilligte PKH nachträglich entzogen werden darf: vorsätzlich falsche Angaben, grobe Pflichtverletzung oder erhebliche Vermögensverbesserung.
- § 178a SGG regelt die Anhörungsrüge – ein Rechtsbehelf, der allein die Verletzung rechtlichen Gehörs korrigieren soll. Da der Verfahrensgegner durch die PKH nicht beschwert ist, kann er mit einer Rüge ihren Bestand nicht angreifen – umgekehrt begründet seine Rüge auch kein Recht des Gerichts, die PKH aufzuheben.
Das LSG führt diese Normen in seine Entscheidungsgründe zusammen und betont, dass die Trennung zwischen Verfahrensgegenstand (Eilantrag) und Kostenakt (PKH) nicht verwischt werden darf.
Warum griff das Jobcenter ein? – Drei plausible Motive
Die Beschwerde war grundsätzlich ein rationaler Schritt, um prozessuale Klarheit zu schaffen und spätere Komplikationen zu vermeiden.
- Rechtsklarheit und Präzedenzwirkung – Hätte die fehlerhafte Begründung des Sozialgerichts Bestand, könnte sie künftige Verfahren beeinflussen. Ein Beschluss, der PKH-Aufhebungen über den Umweg einer Anhörungsrüge akzeptiert, wäre ein falsches Signal und ließe sich in anderen Auseinandersetzungen – potenziell auch gegen das Jobcenter – heranziehen.
- Prozessökonomie – Da der Bürgergeld Empfänger durch den Verlust der PKH seine anwaltliche Vertretung riskiert hätte, wäre eine Beschwerde praktisch sicher gewesen. Das Jobcenter verkürzte das Verfahren, indem es selbst die Frage aufgriff und so eine rasche höchstrichterliche Klarstellung ermöglichte.
- Risiko- und Kostenkontrolle – Eine rechtswidrige PKH-Aufhebung kann spätere Kostenstreitigkeiten auslösen, etwa Vergütungsansprüche des Anwalts aus der Landeskasse. Indem das Jobcenter eine eindeutige Rechtslage herbeiführte, verhinderte es spätere Unsicherheiten in der Kostenliquidation.
Auch wenn die Motive nicht ausdrücklich im Beschluss genannt sind, passen sie zum Bild einer Behörde, die nicht nur Parteivertreter, sondern auch Teil der Rechtspflege ist. Der Einsatz für die „gegnerische“ PKH wirkt paradox, folgt jedoch dem Prinzip, dass öffentliche Stellen an rechtmäßigen Entscheidungen mitwirken müssen.
Fristablauf: Bürgergeld Empfänger dürfen gegen Jobcenter klagen
Bedeutung für Praxis und Betroffene
Der Beschluss stärkt den Bestandsschutz der Prozesskostenhilfe. Wer im Sozialgerichtsverfahren PKH erhält, darf darauf vertrauen, dass sie nicht über formale Abkürzungen entzogen wird. Selbst eine spätere Aufhebung des ursprünglichen Eilbeschlusses oder eine Änderung in der Hauptsache genüen nicht – es müssen die strengen Voraussetzungen des § 124 ZPO vorliegen. Für Betroffene bedeutet das Planungssicherheit: Die Kostenrisiken eines gerichtlichen Vorgehens bleiben beherrscht.
Für Sozialgerichte liefert die Entscheidung einen klaren Warnhinweis. PKH-Beschlüsse sind eigenständige Verfahrensakte und dürfen nicht reflexhaft abgeändert werden, wenn sich der verfahrensrechtliche Kern ändert. Gerichte müssen in jedem Einzelfall prüfen, ob ein gesetzlicher Aufhebungsgrund vorliegt und ob die betroffene Partei vor einer Entziehung rechtlich gehört wurde.
Anwälte gewinnen ein Argumentarium, wenn Gerichte voreilig an bewilligter PKH rütteln: Verweis auf § 172 SGG, § 124 ZPO und die hier besprochene Entscheidung genügen, um eine unzulässige Entziehung abzuwenden. Jobcenter und andere Behörden erkennen zugleich, dass sie im Sinne der Rechtsklarheit gelegentlich auch zugunsten des Gegners vorgehen müssen.
Quellen: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 07.07.2025 – L 1 AS 502/25 B ER PKH


