Zum Inhalt springen

30-Prozent-Keule und „Nichterreichbarkeit“: So hart werden die neuen Bürgergeld-Sanktionen

Die Reform zur Grundsicherung dreht an der Sanktions-Schraube – und zwar spürbar. Ab dem zweiten verpassten Termin drohen beim Bürgergeld-Nachfolger pauschal 30 Prozent Abzug, beim dritten Terminverlust greift eine neue Rechtsfiktion, die Betroffene faktisch aus dem Leistungsbezug schiebt. Sozialforscher Stefan Sell nennt das „Kollektivhaft“ ohne Einspar-Effekt. Für Bürgergeld-Empfänger wird es ernst.

Was politisch verkauft wird – und was beschlossen ist

Das Bundeskabinett hat ein Änderungsgesetz zum SGB II auf den Weg gebracht. Politisch läuft es unter dem Label „Neue Grundsicherung“ bzw. „Grundsicherungsgeld“, verwaltungstechnisch ist es eine deutliche Verschärfung der Sanktionspraxis. Kernpunkte: einheitlich 30 Prozent Abzug bei Pflichtverletzungen für drei Monate, 30 Prozent bei wiederholten Meldeversäumnissen für einen Monat, eine fingierte Nichterreichbarkeit beim dritten verpassten Termin sowie ein erleichterter Leistungsentzug bei Arbeitsverweigerung mit Mindestdauer von einem Monat. Die Entwurfsbegründung stellt klar: „wiederholt“ bedeutet ab dem zweiten Terminverlust.

Greifen die Sanktionen sofort?

Nein. Die neuen Sanktionen gelten erst, wenn das Gesetz nach Abschluss des parlamentarischen Verfahrens im Bundesgesetzblatt verkündet ist. Bis dahin bleibt das bisherige Recht unverändert. Der Regierungsentwurf sieht den 1. Juli 2026 als allgemeinen Starttermin vor – einzelne Normen können abweichende Inkrafttretensdaten haben, aber vor der Verkündung greift nichts. Zusätzlich wird die BA eine Übergangsphase für IT-Anpassungen, Weisungen und Schulungen benötigen – die praktische Anwendung erfolgt daher nach Veröffentlichung und in der Folge stufenweise. Kurz: Rechtswirksam frühestens mit Verkündung, politisch geplant zum 1.7.2026.

Meldeversäumnisse: die neue Eskalationslogik

Entscheidend ist der Einstieg in die Sanktionskette. Der Entwurf erhöht explizit die Minderung „bei wiederholtem Meldeversäumnis“ auf 30 Prozent und erläutert, ein Wiederholungsfall liege „ab dem zweiten“ vor. Daraus folgt: Beim ersten Meldeversäumnis gilt weiterhin die 10-Prozent-Minderung für einen Monat. Ab dem zweiten Terminverlust werden 30 Prozent für einen Monat fällig. Beim dritten in Folge greift die neue Sonderregel. Diese Lesart wird von Begleitmaterialien und ersten Verbandsauswertungen bestätigt.

Achtung Systembruch: „fingierte Nichterreichbarkeit“

Neu ist eine Rechtsfiktion: Wer drei Meldetermine hintereinander unentschuldigt versäumt, wird so behandelt, als sei er nicht erreichbar. Anders als bei echter Ortsabwesenheit wird im ersten Monat die Miete direkt an den Vermieter gezahlt, der Regelbedarf entfällt jedoch komplett. Meldet sich die Person innerhalb dieses Monats persönlich beim Jobcenter, lebt der Anspruch rückwirkend wieder auf – allerdings mit Abzug von 30 Prozent für einen Monat. Der Versicherungsschutz in Kranken- und Pflegeversicherung läuft weiter. Diese Konstruktion zeigt: Es geht um maximalen Druckaufbau, nicht um tatsächliche Nichterreichbarkeit.

Arbeitsverweigerung: Totalsanktion mit gesenkter Hürde

Der Entzug des Regelbedarfs bei Arbeitsverweigerung wird „frühzeitiger“ möglich. Eine vorherige Pflichtverletzung ist keine Voraussetzung mehr, bereits „konkludentes Verhalten“ (z. B. Desinteresse im Gespräch) kann reichen. Der Leistungsentzug dauert mindestens einen Monat; ab dem zweiten Monat muss die unmittelbare Arbeitsmöglichkeit fortbestehen. Für Wohnkosten ist eine Direktzahlung vorgesehen, Kinder und andere Haushaltsmitglieder bleiben ungemindert. Das senkt die Eingriffsschwelle für Jobcenter deutlich.

Materielle Präklusion: juristischer Zündstoff mit Ansage

Neu und brisant: Nach Bestandskraft der Entscheidung oder nach dem Widerspruchsbescheid sollen verspätet eingereichte Nachweise bei der Leistungsfeststellung unberücksichtigt bleiben. Die Begründung nimmt ausdrücklich Bezug auf die Rechtsprechung und will die Präklusionswirkung „klarstellend“ regeln. Problematisch: Vor Sozialgerichten gilt der Amtsermittlungsgrundsatz fort. Wenn Jobcenter späte Belege ignorieren sollen, Gerichte sie aber berücksichtigen müssen, ist eine Klagewelle programmiert.

Zahlen zum Ausmaß: viel Melde, wenig „Totalverweigerer“

Die BA meldete für 2024 rund 369.000 Leistungsminderungen. 86,3 Prozent davon wegen Meldeversäumnissen, etwa 318.700 Fälle. Pflichtverletzungen wie Ablehnung von Arbeit oder Maßnahme sind eine Minderheit. Für 2023 lagen einschlägige Fälle der „Arbeitsverweigerung“ im niedrigen fünfstelligen Bereich. Kurz gesagt: Die harte Rhetorik zielt auf eine sehr kleine Gruppe, während der Löwenanteil der Sanktionen aus verpassten Terminen resultiert.

Stefan Sell: „Kein Einsparpotenzial, Kollektivhaftung“

Sozialforscher Stefan Sell kritisiert die Reform scharf. Seine Kernaussage: Es werde kein Geld gespart, stattdessen würden Millionen Leistungsberechtigte für Einzelfälle mit einer Sanktionslogik in Haftung genommen. Genau diese Symbolpolitik steht im Widerspruch zu den realen Fallzahlen. Für Jobcenter bedeutet die Verschärfung zudem mehr Bürokratie, Weisungen, Widersprüche und Sozialgerichtsverfahren.

Tabellarische Übersicht: Was gilt – was kommt

Vergleich: Aktuelles Recht (SGB II) vs. Regierungsentwurf (Neu)
Regelbereich Aktuell (SGB II) Regierungsentwurf (Neu)
Meldeversäumnis (1. Termin) 10 % für 1 Monat 10 % für 1 Monat (unverändert)
Meldeversäumnis (2. Termin) Erneut 10 % für 1 Monat 30 % für 1 Monat
Meldeversäumnis (3. Termin in Folge) Erneut 10 % für 1 Monat Fingierte Nichterreichbarkeit:
  • Monat 1: Regelbedarf 0 €, KdU als Direktzahlung.
  • Bei persönlicher Meldung im selben Monat: Anspruch lebt rückwirkend auf (abzüglich 30 % Sanktion).
Pflichtverletzung (§ 31) Gestufte Minderung: 10 % / 20 % / 30 % über 1–3 Monate Einheitlich 30 % für 3 Monate bereits beim ersten Verstoß.
Arbeitsverweigerung (§ 31a) Regelsatz-Entzug möglich, aber hohe Hürden (Vorwarnstufe nötig) Verschärft:
  • Mindestdauer 1 Monat Regelsatz-Entzug.
  • Keine Vorpflichtverletzung nötig.
  • Konkludentes Verhalten ausreichend.
Präklusion (Nachreichungen) Nachreichungen im Widerspruch/Klage oft berücksichtigt Verschärft: Nach Bestandskraft und Widerspruchsbescheid im Jobcenter nicht mehr zu berücksichtigen (Gerichte ermitteln weiter von Amts wegen).

Praxisblick: Was bedeutet das im Alltag?

Das häufigste Sanktionsrisiko bleibt der verpasste Termin. Schon heute trifft das vor allem Menschen mit instabilen Lebenslagen, Krankheit, Sorgearbeit oder fehlender digitaler Erreichbarkeit. Mit 30 Prozent ab dem zweiten Termin wird der Druck spürbar steigen. Die fingierte Nichterreichbarkeit ist ein Sonderinstrument. Dass Kranken- und Pflegeversicherung trotz „Nicht-Erreichbarkeit“ weiterlaufen, entlarvt die Fiktion als reines Druckmittel zur persönlichen Meldung. Die Hürdensenkung bei Arbeitsverweigerung verschiebt die Beweislast faktisch zum Nachteil der Betroffenen. Da „konkludentes Verhalten“ im Gespräch ausreicht, ist Streit über das Protokoll vorprogrammiert. Probleme bei der Umsetzung drohen: Ohne IT-Update und BA-Weisungen drohen Fehlentscheidungen, Rücknahmen und mehr Verfahren. Das bindet Ressourcen, die in Beratung und Vermittlung fehlen.