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Kritik an Bürgergeld & Co. – Mehr arbeiten lohnt nicht

Frau betritt ein Jobcenter über die Drehtür am Haupteingang

Der Münchner Ökonom Andreas Peichl hält das deutsche Transfer­system für grundlegend sanierungs­bedürftig. Der Leiter des ifo‑Zentrums für Makroökonomik und Befragungen kritisiert, dass das Nebeneinander von Bürgergeld, Wohngeld, Kinderzuschlag sowie Steuer‑ und Sozial­abgaben so schlecht aufeinander abgestimmt sei, dass zusätzliche Arbeit für viele Haushalte kaum einen finanziellen Vorteil bringe. Diese Analyse gewinnt an Brisanz, weil Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) im Herbst eine umfassende Bürgergeld-Reform vorlegen will, die die jährlichen Ausgaben von derzeit über 50 Milliarden Euro deutlich verringern soll.

„Es lohnt sich nicht, mehr zu arbeiten“

„Das größte Problem am Sozialstaat: Es lohnt sich in vielen Fällen nicht, mehr zu arbeiten“, warnt Peichl im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Seine Berechnungen zeigen, dass von rund vier Millionen erwerbs­fähigen Bürgergeld-Beziehern lediglich etwa 800.000 einer Arbeit nachgehen – auch, weil zusätzliche Einkünfte an mehreren Stellen zugleich Leistungen kürzen.

Beim Bürgergeld bleibt Bereitschaft unbelohnt

Beispiel München: 2.000 € Bruttolohn verpuffen

Die Fehlanreize illustriert Peichl an einem Paar mit zwei Kindern in München. Verdient die Familie zusammen 3.500 € brutto, erhält sie zusätzlich Wohngeld und Kinderzuschlag. Steigt das gemeinsame Einkommen auf 5.500 € brutto, entfallen diese beiden Zuschüsse fast vollständig. Netto bleibt in beiden Fällen nahezu dieselbe Summe, sodass ein Brutto‑Mehrverdienst von 2.000 € keinen realen Nutzen hat – ein Betrag, der einem Vollzeitjob zum Mindestlohn entspricht.

Wohngeld und Kinderzuschlag als „Statistik‑Kosmetik“

Wohngeld und Kinderzuschlag seien laut Peichl eingeführt worden, um Menschen aus der Bürgergeld‑Statistik heraus­zurechnen und verschiedenen Ministerien jeweils ein eigenes „Spielzeug“ in der Sozial­politik zu sichern. Er plädiert deshalb dafür, beide Leistungen in eine einheitliche, neue Grundsicherung zu integrieren. Damit lasse sich verhindern, dass höhere Löhne sofort Transferkürzungen auslösen.

60 Reformvarianten

Für Bund, Länder und Kommunen hat der Ökonom mehr als 60 Reform­szenarien simuliert. Ergebnis: Eine Lösung, die gleichzeitig mehr Menschen in Arbeit bringt, den Bundes­haushalt entlastet, niemanden schlechter­stellt und die Zahl der Transfer­empfänger senkt, existiert nicht. Sinnvolle Änderungen könnten den Bundes­etat zunächst sogar belasten, würden jedoch durch höhere Sozial­versicherungs­beiträge und geringere kommunale Sozial­hilfe später ausgeglichen.

Zuverdienstgrenze als Magnet für Schwarzarbeit

Kritik übt Peichl auch an der aktuellen Zuverdienst­grenze von 100 € im Monat: Wer diese Schwelle nicht überschreitet, darf alles behalten, jeder zusätzliche Euro darüber hinaus wird angerechnet. Das setze Anreize, nur einen Tag pro Monat offiziell zu arbeiten – häufig in Branchen mit hoher Schwarzarbeit-Quote.

Beispiel: Wer zusätzlich zum Bürgergeld einer geringfügigen Beschäftigung nachgeht und die aktuelle Minijob-Verdienstgrenze von 556 € ausschöpft, hat vom Zuverdienst lediglich 194,80 € mehr im Monat – die übrigen 361,20 € kürzen den Leistungsanspruch.