Ein Paukenschlag für EU-Familien: Eltern aus anderen EU-Staaten haben künftig Anspruch auf Bürgergeld und einen sicheren Aufenthaltstitel – selbst wenn ihr Kind keinen deutschen Pass besitzt. Das stellte der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 01.08.2025 (Rs. C-397/23) klar.
Polnischer Vater kämpft um Familienaufenthalt in Deutschland
Der Kläger, ein polnischer Staatsangehöriger, lebt in Deutschland, wo auch sein minderjähriger Sohn mit Daueraufenthaltsrecht wohnt. Nach § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG beantragte der Vater eine Aufenthaltserlaubnis, um das Sorgerecht weiter auszuüben. Die Ausländerbehörde lehnte ab, weil das Kind keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Parallel verweigerte das Jobcenter das Bürgergeld, da der Kläger als Arbeitsuchender gemeldet war. Das Sozialgericht Detmold legte den Fall dem EuGH vor.
EU-Familien in Deutschland
5,05 Mio. EU-Staatsangehörige lebten Ende 2024 in Deutschland, davon rund 665.670 unter 18 Jahren (≈ 13,2 %). Polnische Kinder: 102.280 – das entspricht knapp 2 % aller EU-Bürger hierzulande und gut 15 % aller EU-Kinder. (Quelle: destatis)
EU-Bürger erhalten Bürgergeld nach 5 Jahren Aufenthalt trotz Arbeitssuche
EuGH: Unmittelbare Diskriminierung – Aufenthaltstitel muss erteilt werden
„Art. 24 der Richtlinie 2004/38/EG … ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach einem Unionsbürger, der das Sorgerecht für sein minderjähriges Kind hat, nach dem nationalen Recht allein deshalb keine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge erteilt werden darf, weil dieses Kind zwar ebenfalls Unionsbürger ist und sich gemäß dieser Richtlinie in dem Mitgliedstaat aufhält, aber nicht dessen Staatsangehörigkeit besitzt.“
Der Gerichtshof stellte fest, dass die deutsche Regelung Eltern aus anderen EU-Staaten schlechter stellt als Eltern deutscher Kinder – eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit. Da die Aufenthaltserlaubnis unmittelbar das Freizügigkeitsrecht des Kindes schützt, fällt der Fall in den Anwendungsbereich von Art. 24 RL 2004/38. Die in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 vorgesehene Ausnahme für Arbeitssuchende greift nicht, sobald der Elternteil auf der Grundlage nationalen Rechts einen Aufenthaltstitel erhält.
Gleichbehandlungsgebot aus Art. 18 AEUV und Art. 24 RL 2004/38
Art. 18 AEUV verbietet jede Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit. Art. 24 RL 2004/38 konkretisiert dieses Verbot für Unionsbürger, die ihr Freizügigkeitsrecht ausüben. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG gewährt zwar grundsätzlich eine Aufenthaltserlaubnis an ausländische Elternteile, knüpft diese aber an die deutsche Staatsangehörigkeit des Kindes – ein klarer Verstoß gegen den unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Gleichzeitig darf das Bürgergeld nicht pauschal verweigert werden, wenn der Aufenthaltstitel auf einer anderen Rechtsgrundlage erteilt wird – der in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 erlaubte Ausschluss ist eng auszulegen.
Bereits die Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 7 SGB II (Rz. 7.9 und 7.10, Stand 19.02.2024) bestätigen dieses Verständnis: Der Bürgergeld-Ausschluss gilt nicht, sobald Eltern einen Aufenthaltstitel aus Kapitel 2 Abschnitt 6 AufenthG – insbesondere § 28 – besitzen.
Bedeutung für Verwaltung und Betroffene
Ausländerbehörden müssen künftig Elternteilen aus EU-Staaten eine Aufenthaltserlaubnis erteilen, wenn ihr minderjähriges Kind mit Unionsbürgerschaft in Deutschland lebt – unabhängig von dessen Pass. Jobcenter dürfen das Bürgergeld nicht mehr allein mit dem Hinweis auf „Aufenthalt zur Arbeitssuche“ ablehnen, sobald ein nationaler Aufenthaltstitel nach § 28 AufenthG vorliegt.
Jobcenter müssen ihre Prüfschritte anpassen: Liegt ein § 28-Titel vor, fällt der Ausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II weg (Rz. 7.10 FW). Bei laufenden Anträgen ist deshalb zuerst das Aufenthaltsrecht – und nicht der Erwerbsstatus – zu klären.
Familien mit Kindern aus anderen EU-Staaten erhalten dadurch Planungssicherheit, während die Behörden ihre Verwaltungspraxis anpassen und unionsrechtskonform auslegen müssen. Für laufende Verfahren bietet das Urteil eine starke Grundlage, um ablehnende Bescheide anzufechten – Rechtsanwender prüfen dennoch die konkreten Aufenthaltsvoraussetzungen.
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Klare Neuerungen des EuGH-Urteils C-397/23
- Ausweitung des § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG
Der Paragraf gilt nicht mehr nur für Eltern eines deutschen Minderjährigen, sondern unionsrechtskonform auch für Eltern eines nicht-deutschen EU-Kindes, das in Deutschland lebt. - Pflicht zur Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels
Die Ausländerbehörde muss diesen § 28-Titel erteilen – ein bloßer Aufenthalt „zur Arbeitssuche“ reicht als Ablehnungsgrund nicht mehr. - Unzulässigkeit des Bürgergeld-Ausschlusses
Sobald der § 28-Titel vorliegt, darf das Jobcenter den Bezug nicht mehr mit § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II (Job-Seeker-Ausschluss) verweigern. - Anpassungsbedarf der Verwaltungsvorschriften
Die Fachlichen Weisungen § 7 SGB II (Rz. 7.9/7.10) enthalten die Rückausnahme zwar schon für § 28-Titel, benennen aber bislang nur Eltern deutscher Kinder – dieser Passus muss nun auf Eltern aller EU-Kinder erweitert werden.
Aktuelle Bürgergeld Statistik
Laut Monatsbericht der BA erhielten im April 2025 gut 3,945 Mio. Erwerbsfähige Bürgergeld:
| Alle | Deutsche | Ausländer | dav. EU-Ausländer | |
|---|---|---|---|---|
| Personen | 3.945.410 | 2.082.310 | 1.863.070 | 288.090 |
| Anteil | 100 % | 52,8 % | 47,2 % | 7,3 % |


