Die Zahl der bandenmäßigen Betrugsfälle beim Bürgergeld hat sich im vergangenen Jahr nahezu verdoppelt. Laut Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen erfassten die Jobcenter 421 Verfahren im Jahr 2024, 2023 waren es 229. In gut der Hälfte der neuen Fälle leitete die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren ein. Behörden sprechen von „mafiösen Strukturen“, die gezielt Lücken zwischen Arbeitsmarkt- und Sozialrecht ausnutzen.
Inhaltsverzeichnis
Die nackten Zahlen
Jahr | Ermittelte Fälle | Strafanzeigen |
---|---|---|
2023 | 229 | 52 |
2024 | 421 | 209 |
Jan – Mai / 2025 | 195 | 96 |
Die Statistik basiert ausschließlich auf den 300 Jobcentern in gemeinsamer Trägerschaft. Weitere 104 rein kommunale Jobcenter liefern bislang keine Daten. Fachleute gehen daher von einer hohen Dunkelziffer aus.
Sozialbetrug schadet allen Bürgergeld Bedürftigen
Täterprofil und Herkunft
Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit und mehrerer Ruhrgebiets‑Kommunen stammen die Hauptprofiteure überwiegend aus Bulgarien und Rumänien. Jobcenter-Leiter Frank Böttcher (Duisburg) beschreibt ein „perfekt eingeübtes Geschäftsmodell“: Menschen werden in den Herkunftsländern angeworben, ihre Reisen finanziert und in Deutschland in Schrottimmobilien untergebracht. Die Hintermänner kassieren doppelt – als Vermieter und als „Arbeitgeber“.
So arbeiten die Netzwerke
- Scheinjobs: Dienstleistungsfirmen existieren nur auf dem Papier, Lohnabrechnungen werden digital erstellt und eingereicht.
- Gefälschte Minijobs: Scheinfirmen stellen Arbeitsverträge über wenige Stunden aus. Schon ein Monatslohn von 200 € genügt, um als aufstockender Leistungsbezieher Anspruch auf Bürgergeld zu erlangen.
- Schein‑Selbstständigkeit: Gewerbeanmeldungen werden in Rumänien oder Bulgarien vorbereitet, in Deutschland reichen Briefkastenadressen und elektronische Rechnungen.
- Doppelrolle der Hintermänner: Die gleichen Akteure treten als Vermieter auf. Sie verlangen Höchstmieten, die das Jobcenter vollständig übernimmt, und behalten zudem einen Teil des Regelsatzes ein.
- Kinder im Ausland: In Einzelfällen werden Regelsätze für Kinder gezahlt, die längst wieder in der Heimat leben.
Fallbeispiele
Berlin, Juli 2025: Im Jobcenter Berlin‑Mitte flaggten Prüfer 22 Verdachtsfälle innerhalb von vier Wochen. Laut Behördenchef arbeiten „lernende Banden“ mit ständig wechselnden Briefkastenfirmen und schleusten so Bürgergeld in sechsstelliger Höhe durch das System.
Gelsenkirchen, Juni 2025: Ein städtisches Interventionsteam Südost räumte vier marode Häuser im Stadtteil Schalke. Dort lebten mehr als 80 Personen – fast alle mit bulgarischer oder rumänischer Staatsangehörigkeit – unter Schimmel und offenen Stromleitungen. Das Jobcenter stellte 41 Betrugsanzeigen, in zwei Wohnungen fanden Ermittler 60 gefälschte Lohnabrechnungen.
NRW‑Großrazzia, Februar 2025: Mehr als 100 Einsatzkräfte durchsuchten gleichzeitig 80 Wohneinheiten in Wuppertal, Gelsenkirchen, Duisburg, Leverkusen und Krefeld. Zehn Personen wurden festgenommen, Ermittler stellten Bargeld, Datenserver und gestohlene Arbeitgeberstempel sicher.
Duisburg, März 2024: Die Polizei sprengte eine fünfköpfige Bande, die über 18 Monate rund 370.000 € Bürgergeld erschlich. Bei einer Razzia wurden 300 gefälschte Arbeitgeberbescheinigungen und mehrere Stempelpressen beschlagnahmt.
Politik muss handeln
Die spektakulären Betrugsfälle aus dem Ruhrgebiet – und ähnliche Ermittlungen in anderen Regionen – haben die politische Debatte in Berlin angeheizt. Koalition und Opposition streiten nun um die richtige Balance zwischen schneller Hilfe und lückenlosem Kontrollnetz.
- Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU): „Wir haben es hier zum Teil mit mafiösen Strukturen des sozialen Missbrauchs zu tun.“
- Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD): „Es gibt Menschen, die werden in einem Van abgeholt und als Tagelöhner ausgebeutet … Das sind mafiöse Strukturen, die wir zerschlagen müssen.“
Union und SPD debattieren über schnellere Datenschnittstellen zwischen Jobcentern, Zoll und Finanzbehörden. Bundesarbeitsministerin Bas will ein bundesweites Echtzeit‑Register für Arbeitgebermeldungen schaffen, Kanzler Merz fordert eine Sanktionsschwelle bei wiederholter Falschangabe.
Betrug statistisch selten
Im Verhältnis zu den rund 5,5 Millionen Empfängern von Bürgergeld bleibt organisierter Betrug eine Randerscheinung. Doch die Fälle konzentrieren sich auf strukturschwache Städte – besonders im Ruhrgebiet –, wo billiger Wohnraum kriminelle Geschäftsmodelle begünstigt. Experten mahnen: Ohne besseren Datenaustausch bleibt die Bekämpfung von Sozialbetrug mühsam und teuer.