Eine aktuelle Langzeitauswertung des Instituts für Arbeitsmarkt‑ und Berufsforschung (IAB) zeigt: Wer Bürgergeld bezieht, fühlt sich auf Dauer deutlich unglücklicher – und das, obwohl die finanzielle Grundabsicherung greift. Die Delle beim Wohlbefinden bleibt auch nach mehreren Jahren bestehen und trifft Männer besonders stark.
Inhaltsverzeichnis
Datenbasis
Die Forscher werteten 15 Erhebungswellen der repräsentativen Panelstudie „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ (PASS) aus. Beobachtet wurden Menschen, die erstmals in die Grundsicherung nach SGB II rutschten. Mit Fixed‑Effects‑Modellen trennten die Autoren dabei den reinen Effekt des Leistungsbezugs von anderen Einflüssen wie Einkommen, Erwerbsstatus oder Bildung. So lässt sich feststellen, wie sich die Lebenszufriedenheit derselben Person vor und nach Beginn des Leistungsbezugs verändert .
Die Ergebnisse beruhen auf PASS‑Daten aus den Jahren 2006 bis 2021, also klar vor der Bürgergeld‑Reform. Ob die seit 2023 geänderten Regeln oder die ab 2026 geplante „Neue Grundsicherung“ die Effekte abmildern, müssen künftige Untersuchungen beleuchten.
Bürgergeld in der Kritik – Integration tritt auf der Stelle
Zufriedenheit knickt ein
Bereits im ersten Bezugsjahr sinkt die allgemeine Lebenszufriedenheit im Schnitt um 0,31 Punkte auf der 0‑bis‑10‑Skala. Die Größenordnung ist mit dem Einbruch nach einer Scheidung vergleichbar. Im Gegensatz zu anderen Lebensereignissen tritt jedoch keine nennenswerte Gewöhnung ein – mit steigender Bezugsdauer vertieft sich die Delle sogar, und eine Rückkehr zum ursprünglichen Zufriedenheitsniveau lässt sich nicht erkennen.
„Im Regelfall gewöhnen sich Menschen nicht an den Bezug von Grundsicherungsleistungen, auch wenn der Bezug ihre wirtschaftliche Lage stabilisiert hat.“
Männer rutschen stärker ab
Männer verlieren besonders stark an Lebenszufriedenheit, weil sie ohne Schonfrist dem vollen Aktivierungsdruck ausgesetzt sind und jede zumutbare Stelle annehmen sollen. Der abrupte Rollenwechsel vom Ernährer zum Empfänger von Sozialleistungen führt zu einem spürbaren Status‑ und Identitätsverlust, den die ständige behördliche Kontrolle zusätzlich als entmündigend und stigmatisierend verstärkt. Diese Kombination lässt ihre Werte bereits nach zwei Jahren auf fast -0,8 Punkte absacken und noch lange unter ‑0,6 verharren.
Frauen büßen zwar im ersten Jahr ähnlich viel ein, stabilisieren sich aber schneller. Mütter kleiner Kinder sind häufig von unmittelbaren Arbeitspflichten befreit. Ihre Betreuungsrolle strukturiert den Alltag, stiftet Sinn und wirkt laut Rollenexpansionshypothese als psychologischer Puffer. Deshalb fällt ihr Minus im zweiten Jahr nur um etwa ‑0,2 Punkte aus, erst nach drei Jahren nähern sie sich mit rund ‑0,35 dem Durchschnitt an.
Bremsklötze fürs Wohlbefinden
Warum schlägt die Grundsicherung aufs Gemüt, obwohl sie das Einkommen sichert? Die Studie nennt drei Hauptfaktoren:
- Stigmatisierung: Behördliche Prüfungen und gesellschaftliche Vorurteile drücken auf das Selbstwertgefühl.
- Verlust von Autonomie: Strikte Mitwirkungspflichten engen den eigenen Entscheidungsspielraum ein.
- Eingeschränkte Teilhabe: Der Regelsatz lässt wenig Raum für Freizeit, Kultur oder Rücklagen, Isolation droht.
Was das IAB empfiehlt
Die Autoren machen klar, dass finanzielle Hilfe wie das Bürgergeld allein nicht genügt. Vorrangig seien Investitionen in Humankapital notwendig. Mehr Qualifizierung und Gesundheitsangebote, vertrauensbasierte Beratung statt Misstrauenskultur und teilhabeorientierte Sachleistungen sollen den Dauerstress mindern, ohne Arbeitsanreize zu schwächen.
Fazit
Die Auswertung des IAB legt nahe: Grundsicherung bzw. Bürgergeld sichert zwar das Existenzminimum, hebt aber das subjektive Wohlbefinden nicht wieder an. Für Millionen Menschen im Leistungsbezug bedeutet das ein dauerhaft erhöhtes Risiko psychosozialer Belastungen. Ohne ausreichend Teilhabe, Wertschätzung und realen Ausstiegsperspektiven ist die Grundsicherung für viele ein finanzielles Pflaster – das die tieferen Wunden jedoch offen lässt.